Mit der Schuhspitze schob sie das Hosenbein des Mannes zurück. Um den Knöchel war ein kleines Holster mit einer weiteren Pistole geschnallt. Die beiden Polizisten zogen den Mann hoch und lehnten ihn gegen die Wand. Sie fanden noch ein Springmesser, einen kleinen Totschläger sowie ein paar Reservemagazine. Schließlich griff einer der beiden zum Handy. Er berichtete knapp von einer Heldentat der Frankfurter Polizei, Bereich Personenschutz. Katharina war das nur recht. Dann würde niemand die falschen Fragen stellen.
Der Polizist beendete das Telefonat. »Polanski sagt, wir sollen ihn ins Präsidium bringen. Er schickt Ablösung.«
»Na dann …« Katharina drückte ihm den Beutel mit der Pistole in die Hand.
»In dem Zustand sollen wir ihn mitnehmen?« Der zweite Polizist deutete auf die Hose des Gefangenen. »Die Sitze kriegen wir doch nie mehr sauber.«
Was hatte Polanski noch gesagt? Katharina solle Punkte sammeln?
Erneut wühlte sie in ihrer Handtasche und zog ein Notregencape hervor. Sehr nützlich bei Tatorten unter freiem Himmel. Das Cape war groß genug, um damit notfalls auch eine Leiche und die nähere Umgebung halbwegs vernünftig abzudecken. »Hier, legt das unter.«
»Wir brauchen aber auch noch Ihre Aussage.«
»Später, wenn überhaupt nötig«, widersprach Katharina. »Erstens habe ich es eilig. Zweitens werdet ihr von eurer Festnahme doch selbst genug berichten können.«
Die beiden Polizisten nickten. Sie hakten den Mann unter und schleiften ihn zu ihrem Wagen. Befriedigt sah Katharina, wie sie davonfuhren. Ein normaler Streifenwagen nahm ihren Platz ein und grüßte kurz mit der Lichthupe. Katharina winkte zurück. Streifenhörnchen waren ihr für die Bewachung tausendmal lieber. Schon allein die Anwesenheit eines Streifenwagens wirkte abschreckend. Außerdem konnten die Kollegen in Uniform gefährliche Situationen meist besser beurteilen. Erfahrung auf der Straße war eben durch nichts zu ersetzen.
***
Melanie Wahrigs Computer sprang zwar artig an, aber er verlangte immer noch nach Fingerabdruck und Code-Stick. Katharina fand keine Möglichkeit, ein Passwort einzugeben.
Genervt griff sie zum Telefon und rief bei stop! an. Doch der dortige Systemadministrator konnte ihr auch nicht weiterhelfen. Das System hatte er nicht eingerichtet.
Was jetzt? In der EDV des Polizeipräsidiums konnte sie nicht anrufen; das würde Wochen dauern, so überlastet, wie die waren.
Aber hatte ihr nicht irgendjemand etwas von einem Spezialisten erzählt, der im Rathaus eine Computerpanne behoben hatte? Rathaus? Klar, der Sohn der Oberbürgermeisterin.
***
»Stadtverwaltung Frankfurt, Rathaus?« meldete sich eine mürrische männliche Stimme mit starkem hessischem Akzent.
»Katharina Klein. Kriminalpolizei Frankfurt. Könnten Sie mich wohl mit Oberbürgermeisterin Walpurga Grüngoldt verbinden?«
»Noch höher geht's nicht? Ich schau mal, ob noch jemand im Geschäftszimmer ist.« Es klickte in der Leitung, und ein Synthesizer begann »Für Elise« zu spielen. Nach dem dritten Durchlauf nahm jemand ab. Eine Frauenstimme fragte streng: »Ja?«
»Mein Name ist Katharina Klein, und ich möchte …«
»Natüüürlich«, sagte die Stimme gleich wesentlich freundlicher. »Ich stelle Sie sofort zu Oberbürgermeisterin Grüngoldt durch.«
Es klickte wieder. Doch »Für Elise« hatte nicht einmal den Auftakt genommen, als Katharina schon die Stimme von Walpurga Grüngoldt aus dem Hörer entgegenschallte: »Frau Klein, welch eine Freude! Was kann ich für Sie tun?«
Schüchtern fragte Katharina, ob die Oberbürgermeisterin wohl meinte, ihr Sohn Frank könnte ihr mit einem Computerproblem helfen.
»Natürlich!«, lautete die fanfarenhafte Antwort. »Das macht er sicher gern. Ich gebe Ihnen gerade mal die Handynummer. Zurzeit dürfte er zwar beim Schachtraining sein, aber sprechen Sie ihm auf die Mailbox; er ruft bestimmt sofort zurück.« Katharina notierte die Nummer.
»Ach jaaaa«, fuhr die Oberbürgermeisterin fort. »Ein wenig Bedenken habe ich ja beim Berufswunsch meines Sohnes. Wie gefährlich ist denn die Arbeit eines fornischen … forschen …«
»Forensischen Informatikers?«
»Genau!«
»Ach, da kann ich Sie beruhigen«, log Katharina strahlend ins Telefon. »Die sind fast immer im Labor.« Außer, wenn sie für Katharina arbeiteten. Aber das musste die Oberbürgermeisterin ja nicht unbedingt wissen.
»Da bin ich aber erleichtert.«
Walpurga Grüngoldt versprach noch einmal, alles in ihrer Macht Stehende wegen der »skandalösen Suspendierung einer Heldin« zu unternehmen. Katharina bedankte sich artig.
Kaum hatte die Oberbürgermeisterin aufgelegt, rief Katharina Frank Grüngoldt an. Nur die Mailbox. Sie bat um Rückruf.
***
»Ach, Sie sind es bloß.« Zu Elfie LaSalles Enttäuschung kam Katharina diesmal wieder selbst die Stufen zum Eingang des Kindergartens herauf.
»Ja, Lutz ist leider noch bei der Arbeit«, log Katharina schnell.
»Ach so.« Elfie sah ein wenig fröhlicher aus. Lutz musste sie wirklich schwer beeindruckt haben. »Er ist ein bisschen schüchtern, oder?«
Katharina hob die Schultern: »Scheint so. – Ich werde manchmal nicht recht schlau aus ihm.«
»Aber er ist doch nicht …?«
»Nein, er ist Single.« Wie kam sie eigentlich dazu, Lutz’ Liebesleben zu diskutieren? Aber wenn es der Wahrheitsfindung diente …
»Das meinte ich nicht. Mag er Frauen überhaupt?«
Katharina lachte. »Doch, ich denke schon.«
»Und was halten Sie von Lutz?«, fragte die Kindergärtnerin streng.
»Er ist echt in Ordnung. Man unterschätzt ihn leicht.«
»Aha!« Das war eindeutig »Verhör für Fortgeschrittene: Wie verwickele ich meinen Gegner in Widersprüche«.
Katharina schmunzelte. »Fragen Sie doch einfach.«
»Was soll ich fragen?«
»Interessiere ich mich für Lutz als Mann?«
»Ja?«
»Nein«, sagte Katharina.
Die Gerölllawine, die Elfie vom Herzen fiel, hätte in den Alpen sicher Katastrophenalarm ausgelöst. »Dann ist’s ja gut. Ich hole Laura.«
Elfie verschwand im Inneren des Gebäudes. Katharina entschloss sich, Lutz jetzt jeden Morgen reinzuschicken, um Laura zum Kindergarten zu bringen. Sollte Elfie ihn doch weichkochen.
Es dauerte einen Moment, bis die Kindergärtnerin wieder erschien, mit Laura an der Hand. Die Vierjährige war bereits fertig angezogen und trug ihren kleinen Rucksack. Sie sah sehr unglücklich aus. Katharina ging in die Hocke.
»Hallo, Laura. Was bist du denn so traurig?«
»Ach, die Kinder haben sich heute ein wenig gestritten«, sagte Elfie LaSalle leichthin.
»Ach ja? Und worüber?«
»Weiß nicht. Bin zu spät dazugekommen.«
Katharina sah wieder zu Laura: »Worüber habt ihr euch denn gestritten, Laura?«
Laura antwortete nicht. Sie klammerte sich nur an Katharinas Hals und zog mit einem Schluchzen Luft durch die Nase. Katharina hob sie hoch. Meine Güte, war das Kind schwer. »Entschuldige, aber du wirst laufen müssen.«
Sie setzte Laura wieder ab. Das Mädchen zog sie zum Auto, krabbelte wortlos in den Kindersitz und starrte aus dem Fenster. Katharina erinnerte sich an ihre eigene Kindergartenzeit. Kinder konnten grausam sein. Kurzentschlossen kletterte sie zu Laura auf die Rückbank.
»Komm schon, Laura. Was ist passiert?«
Laura begann wieder zu schluchzen. »Torben hat mich gehauen.«
Katharina strich ihr sanft über das Haar: »Warum denn?«
»Der ist doof. Der hat gesagt, sein Papa hat gesagt, Mama ist eine Schlampe. Die treibts mit jedem.« Laura sah Katharina fragend an: »Das ist was ganz Schlimmes, oder?«
»Das hat er wirklich gesagt?«
Laura nickte und starrte wieder ins Leere.
»Hast du ihn auch gehauen?«
»Er hat mich immer weggehalten, so mit der Hand. Er ist viel größer als ich.«
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