Um einen neuen Fall dieser Art annehmen zu können, wollte Wolf überprüfen, ob seine Kamera nach dem Aufprall noch funktionstüchtig war. Notfalls müsste er seinen alten Fotoapparat benutzen. Einen, in den noch ein Film eingelegt und dieser zum Entwickeln weggebracht werden musste. Das dauerte zwar länger, aber bevor Edgar gar keine Aufträge mehr annehmen konnte, war es zumindest eine Übergangslösung.
Er schaltete die Kamera ein und welch ein Wunder, sie schien kaum einen Schaden davon getragen zu haben. Sie funktionierte noch. Nur optisch sah sie nicht mehr so gut aus. Das Display war mehrfach gesprungen. Die nächsten Bilder konnte er sich nur schwerlich direkt auf der Kamera anschauen. Um zu sehen, ob seine Fotos wirklich gelungen waren, musste er sie sich zukünftig auf seinem Computer ansehen. Edgar fand das nicht weiter schlimm. Die Hauptsache war, dass seine Digitalkamera, für die er lange gespart hatte, noch einsatzfähig war. Bei den alten Fotoapparaten konnte man sich die Bilder schließlich auch erst nach dem Entwickeln anschauen und wusste erst dann, ob sie überhaupt zu gebrauchen waren. Sollte irgendwann der Reichtum in Wolfs Leben treten, konnte er sich immer noch eine neue Kamera kaufen. Solange musste die Alte ihm noch ihre Dienste erweisen.
Edgar druckte die Bilder aus und kontrollierte sie auf ihre Qualität. Als er damit zufrieden war, steckte er die Bilder in einen Briefumschlag und verstaute sie in der obersten Schublade seines Schreibtisches. Danach schaltete er seine Schreibtischlampe aus und ging ins Bad. Er putze sich die Zähne und fiel anschließend todmüde ins Bett. Es dauerte nicht lange, bis er einschlief.
***
»Ja! Hallo!«, nuschelte Edgar verschlafen in den Hörer, als morgens halb zwei das Telefon auf seinem Schreibtisch klingelte. Wie er es hasste, so abrupt aus dem Schlaf geholt zu werden und dann gleich aufstehen zu müssen.
»Spreche ich mit Edgar Wolf?«, fragte eine aufgeregte Frauenstimme am anderen Ende der Leitung.
»Ja. Das tun Sie! Mit wem habe ich denn das Vergnügen?«
»Mein Name ist Elena Bukova. Sie müssen mir helfen, meine Freundin zu finden. Sie ist seit gestern verschwunden. Die Polizei will einfach nichts unternehmen! Angeblich ist sie noch nicht lange genug weg.«
»Jetzt beruhigen Sie sich erst mal! Meinen Sie nicht, Ihre Freundin wird bald von alleine wieder auftauchen? Vielleicht ist sie ja bei einer anderen Freundin oder sie ist ein paar Tage in den Urlaub gefahren.«
»Das hätte sie mir gesagt. Sie erzählt mir sonst immer alles. Und es passt auch nicht zu ihr, einfach so zu verschwinden. Ich mache mir wirklich große Sorgen um sie. Bitte! Sie müssen mir helfen!«
»Okay. Kommen Sie heute um zehn Uhr in mein Büro und bringen Sie ein Foto von ihr mit!«
»Das mache ich. Vielen Dank!«
»Okay. Dann bis später! Tschüss.«
»Tschüss.«
Edgar legte auf und ging zurück ins Bett. Nun war er hellwach und hoffte auf einen neuen Auftrag. Einem, bei dem er keine eifersüchtigen Ehepartner mit Informationen versorgen musste. Eine vermisste Person zu suchen, war für den Privatermittler eine neue Situation. Allerdings wäre es nicht unwahrscheinlich, wenn die verschwundene Frau bis um zehn Uhr wieder aufgetaucht sein würde. Es passierte doch ständig, dass jemand mal einen oder zwei Tage nicht erreichbar war und sich dann plötzlich eingefunden hatte. Deswegen musste er nicht mitten in der Nacht aus dem Bett geholt werden. Während Edgar so darüber nachdachte, spürte er, wie ihm die Augen langsam zu fielen. Es dauerte nicht lange, bis er wieder einschlief.
Nach einer unruhigen Nacht saß Edgar am Schreibtisch bei seiner ersten Tasse Kaffee und wählte verschlafen die Nummer des Anwalts. Als er ihn in der Leitung hatte, bestellte er ihn gegen zwölf Uhr zu sich ins Büro. Lieber hätte er den Anwalt vor dieser ominösen Elena getroffen, damit der alte Fall abgeschlossen war, bevor er sich auf einen neuen konzentrierte. Aber noch war nicht raus, ob es überhaupt einen neuen Auftrag gab. In diesem Moment war Edgar jedoch alles gleichgültig. Er fühlte sich wie gerädert. Seit Langem hatte er wieder davon geträumt, wie er Max tot aufgefunden hatte. Anfangs träumte er jede Nacht davon. Mit der Zeit wurden die Träume immer seltener. Edgar dachte, er hätte diese Albträume endlich hinter sich gelassen. Anscheinend irrte er sich. Möglicherweise hatte es etwas mit dem nächtlichen Anruf zu tun. Seit Edgar aus dem Polizeidienst ausgestiegen war, erhielt er nur Aufträge, bei denen es ausschließlich um die Treue von irgendwelchen Ehefrauen, manchmal auch von Ehemännern, ging. Keiner der Fälle war so spannend, wie man es sich bei einem Privatdetektiv vorstellte. Bei dieser Elena war sich Edgar nicht sicher, was er von ihr und dieser Geschichte halten sollte. Er wusste nicht, ob es überhaupt zu einem neuen Auftrag käme. Insgeheim hoffte er, es gäbe für das Verschwinden von Elenas Freundin eine harmlose Erklärung. Als Detektiv fehlte ihm die Routine, um verschwundene Menschen zu finden.
In einer Stunde würde er mehr wissen. Deshalb beschloss er, sich erst mal keine weiteren Gedanken darüber zu machen und blätterte in der Tageszeitung.
Als er gerade bei dem Sportteil angekommen war, klingelte es an der Haustür. Edgar schaute auf die Uhr. Es war gerade mal kurz nach neun Uhr. Das konnte doch noch nicht diese Elena sein. Und wenn, wäre sie viel zu früh dran. Er ging langsam zu seiner Wohnungstür und sah durch den Spion. Vor der Tür stand sein Zwölfuhrtermin, der Anwalt. Wie immer war er sehr elegant gekleidet. Heute trug er einen grauen Anzug, mit einem weißen Hemd und einer roten Krawatte. Edgar öffnete ihm verwundert die Tür. Er konnte sich nicht erklären, wie sein Auftraggeber, mit dem er erst vor wenigen Minuten telefoniert hatte, so schnell hergekommen war. Es schien, als hätte er auf die Nachricht gewartet.
»Na, endlich! Ich dachte schon, Sie wären wieder schlafen gegangen!«, sagte der Anwalt mürrisch.
Er war ein großer sonnengebräunter Mann, mit braunen Augen und kurzen hellbraunen Haaren, eigentlich ein Frauentyp. Edgar konnte überhaupt nicht verstehen, dass Frau Bauer ihn betrog. Natürlich wusste er nicht, was hinter den Kulissen passierte. Vielleicht hatte der Anwalt genau so wenig Zeit für seine Gattin, wie Edgar damals für seine Frau Lucy. Wenigstens hatte Lucy ihn nie betrogen. Zumindest hoffte Edgar das, ganz sicher konnte er sich nicht sein.
»Wir waren doch erst um zwölf Uhr verabredet!«, sagte Edgar.
»Zeigen Sie mir die Bilder! Ich muss sie sehen!« Florian Bauer stürmte in die Wohnung des Privatermittlers, ohne hereingebeten worden zu sein.
Der Detektiv holte den Umschlag aus der Schreibtischschublade und überreichte ihn dem hektisch wirkenden Mann, der ihm bis zum Schreibtisch gefolgt war. Der Anwalt riss ihm den Umschlag förmlich aus der Hand, öffnete ihn und holte die Fotos heraus. Er sah sich jedes einzelne Bild genau an. Dabei hatte er einen sehr zufriedenen Gesichtsausdruck. Es wirkte, als hätte er sich gewünscht, dass seine Frau ihn betrügt.
Als er sich den Stapel komplett angeschaut hatte, überreichte er Edgar ebenfalls einen Umschlag. Der Detektiv nahm ihn und öffnete ihn umgehend. Darin befand sich sein Honorar für die letzten beiden Wochen Arbeit. Edgar zählte das Geld in aller Ruhe nach. Heutzutage konnte man einfach niemandem mehr vertrauen. Florian Bauer wurde währenddessen immer unruhiger. Entweder hatte er im Anschluss einen wichtigen Termin oder er konnte es nicht abwarten, seine Noch-Frau mit den Fotos zu konfrontieren. Dieser Rechtsverdreher war schwer zu durchschauen.
»Herr Wolf, ich muss jetzt wirklich wieder los. Vielen Dank für Ihre gute Arbeit!«
Er reichte dem Detektiv die Hand und verschwand, genau so schnell, wie er gekommen war.
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