Nachdem seine beiden Frauen weg waren, wohnte er noch ein paar Monate dort. Am Anfang hatte er die Hoffnung, seine Frau könnte mit ihrer gemeinsamen Tochter wiederkehren. Das war allerdings nur Wunschdenken. Er ahnte, es sollte ein Ende für immer sein. Als er es nicht mehr allein in der Wohnung aushielt und es ihm immer schwerer fiel die Miete aufzubringen, machte er sich auf Wohnungssuche. Dabei fand er diese kleine gemütliche Zweiraumwohnung am Rand von Wernigerode. Hier erinnerte ihn nichts mehr an sein früheres Leben und die Miete war bezahlbar.
Edgar hatte seine Frau wirklich geliebt und er liebte sie wahrscheinlich immer noch. Doch er zeigte es ihr offenbar zu wenig und nahm sich viel zu selten Zeit für seine Familie. Seine Tochter Lena hatte er inzwischen seit zwei Jahren nicht mehr gesehen. Zwei Mal im Jahr, zu ihrem Geburtstag und zu Weihnachten, schrieb er ihr eine Karte. Er wusste, es war nicht genug, aber er unternahm nicht einen Versuch, um diesen Zustand zu ändern. Wie gern würde er seine kleine Lena wieder sehen. So klein, wie in seinen Erinnerungen war sie gewiss nicht mehr. Inzwischen war sie zwölf Jahre alt und hatte sich mit Sicherheit sehr verändert. Wahrscheinlich könnte Edgar sie heute nicht mal auf der Straße erkennen, wenn sie an ihm vorbeilaufen würde.
Seine Sehnsucht nach ihr wurde mit jedem Tag stärker. Dennoch schämte er sich, dass er sich die letzten Jahre nicht um sie gekümmert hatte. Das Schlimmste war, Lena lebte wie ihr Vater ebenfalls noch in Wernigerode. Es wäre also ein Leichtes gewesen, den Kontakt zu halten. Edgar spielte immer wieder mit dem Gedanken, sie zu besuchen. Aber, was sollte er ihr sagen? Seine Angst vor ihrer Reaktion war einfach zu groß. Er wusste nicht, ob sie ihn überhaupt sehen wollte. Wenn seine Lena ihn wegschicken würde, wäre es für den sonst so hartgesottenen Detektiv noch um Einiges schlimmer, als die jetzige Situation ertragen zu müssen.
Früher hatte Edgar zwar auch nicht viel Zeit für seine Tochter gehabt, aber er konnte sie wenigstens täglich sehen und in den Arm nehmen. Das geschah zugegebenermaßen nicht allzu oft. Meist schlief sie schon, wenn er nach Hause kam. Dennoch ging er jeden Abend in ihr Zimmer, um sie zu sehen.
Zu dieser Zeit war Edgar Polizist, sogar ein recht Passabler. Bis ihm kurz, nachdem seine Frau ihn verlassen hatte, eine Falle gestellt wurde und niemand an seine Unschuld glaubte. Noch nicht mal seine Kollegen. Als er daraufhin vom Dienst freigestellt wurde, kündigte er seinen Job, und machte sich kurze Zeit später als Privatdetektiv selbstständig. Zwar wurde der Fall damals aufgeklärt und Wolfs Unschuld bewiesen, aber für Edgar hatte sich der Polizeidienst trotz der Aufklärung erledigt. Er wollte keinesfalls mehr mit Leuten zusammenarbeiten, die ihm einen Mord zutrauten. Alle glaubten, er habe seinen Partner eiskalt abgeknallt. Es stand außer Frage, dass sein Kollege mit Wolfs Dienstwaffe erschossen wurde. Allerdings dachten seine Kollegen anfangs, es sei Wolf gewesen. Niemand glaubte ihm seine Version der Geschichte. Er wurde bewusstlos geschlagen, bevor der tödliche Schuss fiel. Damals waren Edgar und sein Kollege Max an einer riesigen Drogengeschichte dran. Sie erhielten einen anonymen Tipp, ein großer Drogendeal sollte in einer Lagerhalle mitten in Wernigerode stattfinden. Also fuhren sie hin und schlichen sich hinein. An einen Hinterhalt hatten sie beide nicht gedacht. Die Halle war mit Kartons vollgestellt, also teilten sie sich auf. Jeder wählte einen anderen Gang, um die Dealer möglichst einzukreisen. Dann nahm das Unheil seinen Lauf. Zuerst bekam Wolf eine über den Schädel gezogen und anschließend wurde Max mit Edgars Dienstwaffe erschossen. Als Edgar wieder zu sich kam, fand er seinen toten Kollegen wenige Meter neben sich liegen und rief Verstärkung. Max musste sofort tot gewesen sein. Ihn traf eine Kugel in den Kopf.
Zwei Monate nach diesem Vorfall wurde der Täter geschnappt. Er gab zu, dass es eiskalt geplant war. Sein Auftraggeber, dessen Namen er bis zum heutigen Tag nicht preisgegeben hatte, erklärte ihm, es genau so zu machen. Max sollte sterben und Edgar aus dem Verkehr gezogen werden, indem ihm der Mord in die Schuhe geschoben werden sollte. Ziel des Ganzen war es beide Polizisten aus dem Weg zu räumen, damit sie aufhörten, herumzuschnüffeln. Laut Aussage des Täters sollte er einen der beiden umbringen und den anderen am Leben lassen. So sollte Zeit geschaffen werden. Es war reine Glückssache, dass Edgar noch lebte und Max sterben musste. Der Täter hätte es genau so gut anders herum machen können.
Noch heute machte Edgar sich Vorwürfe, damals so blauäugig dem Informanten vertraut und seine übrigen Kollegen nicht eingeweiht zu haben, bevor sie zur Lagerhalle fuhren. Max war nicht nur sein Partner, sondern gleichzeitig sein bester Freund gewesen und der Einzige, mit dem er gern zusammengearbeitet hatte. Bevor er Max kennenlernte, war Edgar meist allein unterwegs. Jedem Partner, den er im Laufe seines Berufslebens zugeteilt bekam, machte er ziemlich schnell klar, dass eine Zusammenarbeit zwischen ihnen nicht funktionieren würde. Mit Max war das anders. Die beiden Männer waren von Anfang an auf derselben Wellenlänge. Schon bei ihrer ersten Begegnung vor mehr als zehn Jahren war ihnen das auf Anhieb klar. Sie wussten, sie würden gut miteinander auskommen. Max war damals wegen der Liebe von Magdeburg nach Wernigerode gezogen. Er hatte seine Frau Anne bei einem Konzert in Wernigerode kennengelernt. Es funkte sofort zwischen den beiden. Es dauerte nicht lange, bis Max sich entschied, nach Wernigerode zu ihr zu ziehen.
An Max seinem ersten Arbeitstag wurde ihm und Edgar mitgeteilt, dass sie von nun an zusammenarbeiten werden. Wolfs vorheriger Partner, mit dem er sich nur notgedrungen abgegeben hatte, ging eine Woche zuvor in den Ruhestand. Also war es Zeit für einen neuen Kollegen. Und dieses Mal funktionierte es. Die beiden verstanden sich blind.
Mit den anderen Kollegen konnte Wolf nicht viel anfangen. Die meisten waren ihm viel zu humorlos und echte Paragrafenreiter. Von diesem strikten Dienst nach Vorschrift hielt Edgar noch nie etwas. Ungewöhnliche Ereignisse erforderten eben hin und wieder ungewöhnliche Maßnahmen, die nicht immer mit dem langen Dienstweg zu vereinbaren waren. Deshalb konnte er sich auch nach der Zeit mit Max nicht mehr vorstellen mit jemand anderen zusammenzuarbeiten und womöglich so zu tun, als wäre nie etwas gewesen. Und diese falsche Freundlichkeit, die ihm seine Ex-Kollegen nach diesem Ereignis entgegengebracht hatten, machte für ihn, die ohnehin schon mühsame Polizeiarbeit, immer unerträglicher.
Als Edgar in seinem Wohnbüro eintraf, wollte er gleich die Bilder auf der Speicherkarte sichten. Er musste wissen, ob die Karte noch intakt war und die Bilder ausreichten, um dem Auftraggeber die gewünschten Ergebnisse zu liefern. Er schob die Karte in das interne Kartenlesegerät seines Rechners und wartete gespannt, bis sich die Datei öffnete.
Die Bilder waren vielversprechend und Beweis genug für die Untreue der Anwaltsgattin. Edgar wollte seinen Auftraggeber, den Anwalt, gleich am nächsten Tag anrufen und dessen Verdacht bestätigen. Seine Frau betrog ihn tatsächlich. Wahrscheinlich würde er sie aus seinem Haus werfen. Er hatte mehrfach betont, es sei sein Haus. Das sollte aber nicht Edgars Problem sein. Für ihn war nur wichtig, dass dieser Auftrag abgeschlossen war und er endlich sein Honorar erhalten würde. Das hatte er bitter nötig, er war mit zwei Monatsmieten im Rückstand. Sein Vermieter nervte ihn deshalb seit Wochen. Mit dem Geld wollte er die rückständige Miete bezahlen, damit sich der Vermieter erst mal wieder entspannte. Allerdings würde diese Entspannung nicht von Dauer sein. Seit einem Tag war bereits die Miete für den laufenden Monat fällig. Darauf müsste sein glatzköpfiger Vermieter so lange warten, bis sich ein neuer Fall ergäbe. Nur wann das sein würde, konnte der Detektiv noch nicht abschätzen. Die Auftragslage in den letzten vier Wochen war so mies, dass Wolf gerade mal zwei Aufträge hatte. In beiden Fällen ging es um die Beschaffung von Beweisen für die Untreue von Ehefrauen. Also nicht gerade Edgars Traumjobs. In diesen Zeiten musste er nehmen, was er bekam, um Geld in seine Kasse zu bekommen.
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