Mark und Tom hatten damals mit Sarah im Schlepptau den Hang hinunterfahren wollen, doch schon nach knapp hundert Metern landete Sarah im Schnee und rutschte mehr oder weniger freiwillig den Abhang auf ihrem Po hinunter. Mark und Tom versuchten immer wieder, sie auf die Beine zu stellen, doch alle Müh‘ war vergebens. Sarah kam jedes Mal wieder ins Straucheln und stellte die Ski quer, verhakte sich und landete erneut im Schnee.
Als Sarah es doch irgendwie geschafft hatte und endlich im Tal ankam, warteten die drei Freunde bereits auf sie, doch man erkannte nur noch sehr wenig von ihrem Schneeanzug. Eine Schneeschicht umhüllte ihren Körper und ihre Skimütze mit den zwei Bommeln ließ sie aussehen wie ein kleines Häschen. Tom, Mark und Jessica schüttelten sich vor Lachen und nannten sie seitdem Schneehäschen, wenn Sarah nur mit Schnee in Berührung kam.
An diese Aktion konnte auch Sarah sich sehr gut erinnern, ebenso an die vielen blauen Flecke, die sie davon trug. Anfangs war sie ein bisschen sauer auf die Freunde, weil diese sie oben am Berg im Stich gelassen hatten, doch als sie endlich das Tal erreichte und ihre Freunde lachend an der Skihütte stehen sah, konnte auch Sarah sich ein Schmunzeln nicht mehr verkneifen. Letztendlich war sie froh, dass sie heil und ohne Knochenbrüche ins Ziel kam. Im Grunde war sie eher ein kleines bisschen stolz, dass sie den Mut aufgebracht hatte und das Risiko auf sich nahm, ungelernt dieses Wagnis einzugehen. Danach hatte sie es nur noch dreimal probiert, aber jedes Mal mit dem gleichen Ergebnis. Sie blieb ein hoffnungsloser Fall.
Alle drei Freunde schauten jetzt erwartungsvoll auf Sarah, doch so leicht wollte sie sich nicht umstimmen lassen.
„Na gut, ich bin dabei, aber nur unter einer Bedingung, wenn ihr…, hm, wartet! Mir fällt gleich etwas ein.“ Überlegend stützte Sarah ihre Hände an den Kopf und fixierte die drei. Sie musste sich irgendwie aus der Affäre ziehen. Während ihr Blick durch den Pub schweifte, blieb er an der Tür hängen, doch fiel ihr immer noch nichts Passendes ein.
„Gut, überleg dir was. Ich bin mal für kleine Mädchen.“ Jessica stand von ihrem Barhocker auf und machte sich schnurstracks auf den Weg zur Damentoilette.
Sarah sah ihr gedankenverloren nach und grübelte, welche unlösbare Aufgabe sie ihren Freunden aufbrummen und sie sich somit vor der morgigen Aktion drücken konnte.
Allmählich nahm Sarah wahr, dass der Pub aus allen Nähten platzte. Er füllte sich zusehends. Sie vermutete, dass die letzten Weihnachtsmarktbesucher versuchten, der eisigen Kälte zu entfliehen. War das Glück auf deren Seite, ergatterten sie hier noch einen freien Platz und tranken gemütlich einen Absacker, um den Abend ausklingen zu lassen. Einige der anwesenden Gäste kannte sie aus dem Buchladen, manche waren Stammkunden in Mikes Pub, so wie sie und ihre Freunde.
Inzwischen hatte Tom erneut eine Runde Bier für alle bestellt, was gar nicht so leicht war bei dem Andrang, und Sarah spürte, wie der Alkohol ihr bereits ins Blut schoss. Sie hatte noch nie viel Alkohol vertragen und wusste, dass es ihr letztes Glas sein würde, ansonsten hätte sie morgen ein Problem mit dem Aufstehen.
Tom und Mark unterhielten sich bereits über den morgigen Tag, wann sie starten und welche Piste sie ausprobieren wollten. Sarah hörte den beiden skeptisch zu und überlegte weiterhin krampfhaft, wie sie die Freunde austricksen konnte.
Als Jessica plötzlich die Hände auf ihre Schultern legte und ihr ins Ohr schrie, erschrak sie aus ihren Gedanken: „Na schon überlegt, wie du dich morgen drücken kannst?“
Jessica kannte sie einfach zu gut, es war schwer, ihr irgendetwas vorzumachen. Schwungvoll setzte sie sich wieder auf ihren Hocker und ergriff das neu gefüllte Glas, das Mike gerade serviert hatte.
„Dann lass mal hören, unter welcher Bedingung du mit uns an den Start gehst!“
Tom stupste Sarah von der Seite an. „Mach es uns aber nicht zu schwer, du weißt, wir wollen dich dabei haben.“
Er schaute zu Mark rüber und zwinkerte ihm zu. Er wusste, dass Mark auf Sarah stand, doch bisher nicht bei ihr landen konnte. Beide würden allerdings ein schönes Paar abgeben, er, der blonde Sonnyboy, und sie, die zurückhaltende hübsche Großstadtmaus.
Sarah hatte eine schlanke Figur, war knapp ein Meter fünfundsechzig groß und sah mit ihrem schulterlangen braunen, lockigen Haar, welches ihr schmales Gesicht einhüllte, sehr attraktiv aus. Sie betonte ihre rehbraunen Augen nur mit etwas Mascara und ihre schmalen Lippen trugen ein Hauch von Lipgloss. Für Mark stand der Sport immer im Vordergrund, Sarah dagegen mied diesen weitestgehend, und er wusste, sie liebte dafür ihre Bücher umso mehr.
Wie es schien, hatte es bisher nur auf Marks Seite gefunkt. Tom war sich nicht sicher, ob Sarah irgendwann Marks Gefühle erwidern würde, aber das behielt er lieber für sich. Er wollte sich da nicht einmischen, weil er aus Erfahrung wusste, wie es ist, wenn eine Liebe nicht erwidert wurde und Außenstehende trotzdem versuchten, zu vermitteln. Entweder der Liebesfunke sprang gleich auf beiden Seiten über und es machte peng, oder es würde trotz aller Bemühungen zu keiner dauerhaften Beziehung kommen.
Die vier unterhielten sich einige Minuten über belanglose Sachen, die in dieser Woche geschehen waren, als plötzlich Sarah eine brillante Idee hatte. Da es schon ziemlich spät war und sie nicht mehr daran glaubte, dass sich weitere Gäste um diese Uhrzeit in den überfüllten Pub einfinden würden, schaute sie kurzum noch einmal zur Eingangstür und platzte mit dem Satz „Ich hab’s“ heraus.
Alle drei Freunde und auch die Menschen in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft blickten sie neugierig und erwartungsvoll an.
Sarah senkte die Stimme, als sie bemerkte, dass die gesamte Aufmerksamkeit der anderen Besucher ihr galt. „Also gut, falls sich heute noch jemand hier im Pub verirrt und einer von euch diese Person mit Vor- und Zunamen kennt sowie sein Alter und seinen Beruf, dann komme ich morgen mit auf die Piste.“
Ein triumphierendes Lächeln breitete sich um ihre Mundwinkel aus, als sie in die verdutzten Gesichter der anderen sah. Sie wusste, dass ihre Chance, nicht starten zu müssen, höher als fünfzig Prozent lag. Einheimische wären schon längst hier eingekehrt und neue Gesichter noch anzutreffen, bedeutete auch, dass ihre Freunde sie nicht kannten.
Die anderen schauten sich verblüfft an.
„Na gut, dann warten wir und schauen, ob sich heute noch was in Bezug auf bekannte Kundschaft tut.“ Jessicas, die als erste ihre Sprache wiederfand, drehte missmutig ihr Glas in den Händen und schaute zu ihrer Freundin rüber. „Aber freu dich nicht zu früh. Es ist zwar weit nach zweiundzwanzig Uhr, das heißt aber noch lange nicht, dass hier niemand mehr reinschaut, den wir nicht kennen.“
Aufmunternd sah Sarah die drei an.
„Na kommt schon, macht nicht solche Gesichter! Falls ihr verliert, könnt ihr morgen eure erste Tour voll und ganz genießen und müsst euch nicht von einem Schneehäschen wie mir ausbremsen lassen. Ich komme bestimmt ein anderes Mal mit, schließlich beginnt die Wintersaison gerade erst.“
Mark nahm sein Bierglas und trank es auf Ex aus. „Du weißt, dass wir dich dabei haben wollen. Du bist keine Spaßbremse. Ohne dich ist es nur halb so lustig!“
Sarah wusste, dass Mark am liebsten seine ganze Freizeit, also falls er gerade mal nicht mit seinem Fitnessprogramm beschäftigt war, mit ihr verbringen wollte. Doch dazu war sie nicht bereit. Sie fühlte, dass er mehr von ihr wollte, was sie ihm nicht geben konnte. Sie genoss seine Nähe und er war sehr liebenswert, aber ihre Gefühle waren nicht tiefgründig genug. Mehr als Freundschaft für ihn empfand sie im Moment nicht. Der Schmerz über die erlebte Enttäuschung mit Paul versperrte wie ein kalter Stein den Weg zu ihrem Herzen. Aber ihm das zu sagen, widerstrebte ihr, sie wollte seine Gefühle nicht verletzen.
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