„Meine liebe Sarah“, rief sie freudestrahlend, „was um alles in der Welt machst du denn hier? Warum hast du nicht vorher angerufen und mir gesagt, dass du mich besuchen kommst?“
Kaum hatte Marianne die Worte ausgesprochen, erkannte sie, in welchem Gemütszustand sich ihre Enkelin befand, als sie in das tränennasse Gesicht schaute. Wortlos hatte sie Sarah in ihre Arme geschlossen. So standen sie minutenlang schweigend am Eingang, eng umschlungen, bis Marianne Sarah behutsam von sich schob und tröstend ihre Wange tätschelte.
Es war Anfang Dezember und draußen waren die Temperaturen bereits weit unter Null. Über Nacht hatte es den ersten Schnee gegeben und die Straßen und Gehwege waren mit einer zehn Zentimeter hohen Schneeschicht bedeckt.
Marianne Jensen hatte sie an die Hand genommen und in die hintere Nische des kleinen, aber gemütlichen Verkaufsladen geführt, wo ein runder Holztisch stand, auf dem ein hübscher Weihnachtsstern thronte, und zwei gepolsterte Korbsessel diesen Tisch umrahmten.
Danach hatte sie Sarahs Koffer geholt und hinter dem Tisch verfrachtet. Ohne ein Wort hatte sie der Enkelin aus dem grauen Wollmantel geholfen und behutsam in einen der Sessel gedrückt. Lange schweigend und mit leicht gerunzelter Stirn hatte Marianne Jensen ihre Enkelin beobachtet und war auf leisen Sohlen zu der kleinen Küchenzeile nebenan gegangen, um für sie beide erst einmal einen Tee zu kochen. Marianne hatte nicht vergessen, dass ihre einzige Enkeltochter Tee liebte, vorzugsweise Earl Grey, ohne Milch und Zucker. Was auch immer geschehen war, eine Tasse Tee schien ihr in diesem Moment genau das Richtige, um Sarahs Nerven zu beruhigen und sie gleichzeitig aufzuwärmen, denn ihr Körper glich beinahe einem Eiszapfen.
Still in sich zusammengesunken hatte Sarah in ihrem Sessel gekauert und war froh darüber gewesen, hierhergekommen zu sein, aber auch dankbar, dass ihre Großmutter sie ohne viel Aufsehen, anders als es Sarahs Mutter wohl in dieser Situation getan hätte, erst einmal zur Ruhe kommen ließ und geduldig abwartete. Sarah hatte ihre Großmutter seit den letzten Semesterferien nicht mehr gesehen, doch sie wusste, dass sie hier immer herzlich willkommen war.
Noch vor dem Morgengrauen hatte Sarah auf Zehenspitzen das warme Futonbett verlassen, in dem Paul schnarchend schlief, um ihn nicht zu wecken.
Paul war ihr erster fester Freund, mit dem sie sich über ein Jahr eine Wohnung geteilt hatte. Sie kannten sich vom Studium und lernten sich bei einer der Vorlesungen kennen, wo sie sich auf Anhieb verstanden und die Sympathie auf beiden Seiten sofort spürbar war. Von da an machte Paul ihr tagtäglich den Hof, lud sie zum Essen oder ins Kino ein, half ihr beim Studium oder verwöhnte sie mit kleinen Aufmerksamkeiten wie Blumen oder einem gemeinsamen Frühstück bei McDonalds und wich kaum noch von ihrer Seite. Nach anfänglicher Zurückhaltung, doch zugleich beeindruckt von seiner Beharrlichkeit, verliebte Sarah sich zunehmend ein bisschen mehr in Paul und genoss jeden Tag seine Liebesbemühungen aufs Neue. Bald darauf verbrachten sie ihre erste gemeinsame Nacht und der Sex mit ihm war schön. Sarah genoss die ausgewogene Harmonie zwischen ihnen. Für sie war klar, ihre Beziehung zu diesem Mann sei für die Ewigkeit. Paul gab ihr mehr als einmal das Gefühl, dass sie seine Nummer Eins im Leben war.
Zumindest hatte Sarah das bis zu jenem Abend geglaubt, als ihre heile Welt plötzlich und vollkommen unerwartet aus den Fugen geriet.
Doch an jenem schrecklichen Morgen, als sie der Hansestadt den Rücken zugekehrt hatte, war sie völlig übermüdet ins Badezimmer geschlichen, um geschwind in ihre blaue Jeans zu schlüpfen und Wollsocken und Pullover überzustreifen. Nachdem sie nur flüchtig die Zähne geputzt und das Gesicht erfrischt hatte, warf sie einen prüfenden Blick in den runden Spiegel, der über dem Waschtisch neben der Tür hing, um ihre langen braunen Haare zu bändigen und ein wenig Wimpertusche aufzutragen. Doch als sie ihr Spiegelbild sah, erschrak sie selbst. Ihre Augen waren rot gerändert und ihre Lider geschwollen. Zu viele Tränen hatten unverkennbare Spuren auf ihrem Gesicht hinterlassen. Aber darum hatte sie sich nicht kümmern können. Zum Nachdenken würde sie genug Zeit haben, wenn sie bei ihrer Großmutter in Bayern war.
Eilig hatte sie ein paar Pflegeutensilien in ihrer Waschtasche verstaut. Einige Kleidungsstücke und Habseligkeiten aus Kommoden und Schränken, die ihr lieb und teuer waren, landeten ebenfalls in ihre Koffer. Hastig zog sie Stiefel und Wollmantel über.
Bevor Sarah den Autoschlüssel aus der Schale genommen hatte, die auf der weißen Flurkommode stand und den Wohnungsschlüssel an dessen Stelle legte, hatte sie sich rasch noch einen kleinen Zettel und einen Stift geschnappt, um mit zittriger Hand Abschiedsworte an Paul zu schreiben.
‚ Ich verlasse dich. Du hast mein Vertrauen missbraucht. Leb wohl und werde glücklich mit Meike. S.’
Tränen rannen über ihre Wange und benetzten das Papier.
Bedeutungsvoll hatte sie diesen Zettel zu ihren Wohnungsschlüssel gelegt. Es war nicht mehr ihr Schlüssel und auch nicht mehr länger ihr zu Hause. Damals wusste sie noch nicht, dass sie diese Wohnung nie wieder betreten würde.
So hatte Sarah an jenem Dezembermorgen die Hamburger Stadtwohnung verlassen und die Tür mit einem Knarzen hinter sich ins Schloss gezogen.
Was ihr blieb, war ein tiefer Riss mitten in ihrem Herzen.
Gedankenverloren hatte Sarah Jensen, die Germanistikstudentin aus Hamburg, im Buchladen ihrer Großmutter gesessen und nicht recht gewusst, wie es weitergehen sollte. Sie fror und hatte am ganzen Körper gezittert, nicht nur wegen der eisigen Winterkälte. Sie hatte eine Leere in sich verspürt, die sie in ihrem Leben bis dahin nicht gekannt hatte.
Sarah erinnerte sich noch genau, mit wie viel Liebe Marianne diesen kleinen Laden weihnachtlich geschmückt hatte. Zum ersten Mal an jenem Tag hatte sich ein Lächeln um ihren Mund gelegt.
Überall im Raum waren kleine Weihnachtsgestecke mit Kerzen verteilt. Das große Schaufenster schmückte ein riesiger Schwippbogen, an dessen Seiten wunderschöne Engel mit weiß lockigem Haar und einer Kerze in der Hand thronten. Noch heute vernahm Sarah den Duft nach Räucherkerzen und Zimtstangen, die auf dem Kassentresen platziert waren. Über dem Türrahmen hatte Marianne eine künstliche Tannengirlande mit einer gelb leuchtenden Lichterkette und mit großen roten und goldenen Kugeln angebracht. Liebevoll hatte sie alles dekoriert. Die Bücherregale waren übersichtlich nach Themen sortiert. Am Eingang stand ein Regal, indem man kleine Accessoires wie Schneekugeln, Weihnachts- und Ansichtskarten, Kerzen oder Kalender finden konnte. Weihnachtssterne mit ihren roten und grünen Blättern verzauberten in allen Ecken und Winkeln den Buchladen. Ein Hauch von Weihnacht hatte zu jener Zeit in der Luft geschwebt.
Genau auf dieselbe Art und Weise hatte Sarah auch in diesem Jahr das kleine Lädchen geschmückt.
Wehmut beschlich sie. Trotz ihrer damals neunundsechzig Jahre sah Marianne immer noch sehr gut aus. Sie hatte die schon ergrauten Haare stets zu einem Dutt hochgesteckt, trug ein dezentes Makeup und Mascara. Auf ihren Lippen schimmerte täglich ein rosa Lippenstift. Oft trug Marianne ihre Lesebrille auf dem Kopf, was ihr gebildetes Wesen zum Vorschein brachte. Sarah hatte diese Frau geliebt, seit sie denken konnte.
Ganz früher hatte Marianne in einem bekannten Verlag in München als Lektorin gearbeitet. Dort lernte sie auch Gustav kennen, Sarahs Großvater. Sarah hatte ihren Großvater jedoch nie kennengelernt, da er kurz nach der Geburt von Sarahs Mutter Elisabeth durch einen schweren Verkehrsunfall ums Leben kam. Seitdem hatte Marianne alleine gelebt und Sarahs Mutter ohne Unterstützung groß gezogen. Ein paar Jahre nach Elisabeths Geburt gab Marianne ihren Beruf auf und kümmerte sich nur noch um ihre Tochter. Bis sie eines Tages beschloss, von dem Geld, das sie aus der Lebensversicherung ihres Mannes erhalten hatte, einen kleinen Buchladen zu eröffnen, in den sie ihre ganze Liebe und Energie stecken wollte, weil Bücher und Lesen ihre große Leidenschaft waren. Genauso wie bei Sarah. Marianne hatte mit einem bisschen Glück diesen Laden samt Gebäude erworben, in dem sie bis zu ihrem Tode lebte.
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