„Sarah, möchtest du mir nicht erzählen, was passiert ist?“, hatte Marianne ihre Gedanken unterbrochen. „Ich freue mich sehr, dich zu sehen, aber nicht so, wie du im Moment ausschaust.“
Sarah hatte ihre Großmutter aus verweinten Augen angesehen und zaghaft den Kopf geschüttelt.
„Nicht heute, bitte. Darf ich eine Weile bei dir wohnen?“
Bittend hatte sie die Großmutter angeschaut. Denn damals wusste sie nicht, wo sie sonst bleiben und wie es mit ihrem Leben weitergehen sollte.
Warum hatte Paul ihr so wehgetan? Sarah hatte sich bei dem Gedanken an Paul verschluckt. Bilder des Abends ließen sie nicht zur Ruhe kommen.
„Natürlich kannst du bei mir bleiben, so lange du möchtest. Und wenn du bereit bist zum Reden, dann werde ich da sein und dir zuhören.“
„Danke“, war das einzige Wort, was sie zu diesem Zeitpunkt über die Lippen brachte, da ihre Kehle wie ausgetrocknet war.
Liebevoll und mitfühlend hatte Mariannes knochige Hand über Sarahs Kopf gestreichelt. Dann hatte sie ihren Rock gerafft und war wortlos zum Kassentisch gegangen, um den Schlüssel zu ihrer Dachwohnung zu holen und ihn ihrer Enkelin in die Hände zu drücken.
„Du weißt ja Bescheid. Geh rauf und nimm dir ein heißes Bad. Das wird dir guttun. Ich werde nach Ladenschluss heraufkommen und nach dir schauen. Aber zuvor trinkst du deinen Tee.“
Nachdem Sarah ihre Teetasse geleert hatte, nahm sie ihre beiden Koffer und verließ mit herab hängenden Schultern durch den Seiteneingang den Buchladen. Von dort aus gelangte man direkt zum Treppenaufgang in die kleine, aber gemütliche Dachwohnung. Bevor sie jedoch die Tür hinter sich ins Schloss zog, hatte sie sich noch einmal umgedreht und in die warmherzigen Augen ihrer Großmutter gesehen.
Schon als kleines Kind hatte Sarah dieses Haus mit den zwei kleinen Wohnungen und dem Buchladen gemocht. Es strahlte Ruhe und Behaglichkeit aus. Hier hatte sie sich seit jeher wohl und geborgen gefühlt.
Als sie die Treppenstufen hinauf gegangen war, war sie kurz vor der Wohnungstür stehengeblieben, um den Duft, den dieses Haus stets verströmte, tief einzuatmen. Mit einem vertrauten Gefühl betrat sie ihre neue Bleibe.
Sarah hatte lange vor dem großen Dachfenster gestanden, das die gesamte Wandbreite einnahm. Über die weißen Dächer von Garmisch-Partenkirchen hatte man tagsüber einen wundervollen Ausblick auf die verschneiten Bergspitzen der Alpen. Doch nun hatte sich die Dunkelheit über das Alpenstädtchen und über Sarahs Herz gelegt.
Sarah hatte die Augen geschlossen und eine Ruhe, die sich in ihrem Körper ausbreitete und die sie so dringend benötigte, verspürt.
Ihr Handy, welches aus der Manteltasche gefallen war, hatte ihr gezeigt, dass mindestens zehn Anrufe in Abwesenheit darauf waren. Ihr war durchaus bewusst gewesen, wer der hartnäckige Anrufer war. Paul hatte mehrmals versucht, sie zu erreichen. Nach kurzer Überlegung schob sie das Telefon zurück in die Manteltasche. Sie wollte nicht mit ihm reden, nie wieder. Ihre Enttäuschung war einfach zu groß.
Wieder hatte sich dieser unbekannte Schmerz in ihrer Brust breitgemacht. Kraftlos und völlig übermüdet war sie in das angrenzende Badezimmer gegangen und hatte das getan, wozu ihre Großmutter geraten hatte. Während sie ein ausgiebiges Schaumbad nahm‚ stellte sich ihr immer und immer wieder dieselbe Frage:
‚Warum hat er mir das angetan, warum hat er mich so verletzt?’`
Doch die Antwort blieb er ihr schuldig, bis zum heutigen Tage.
Sein Verrat an ihrer Liebe blieb ein Rätsel, dessen Lösung sie nur bekommen hätte, wenn sie mit ihm geredet hätte. Aber dazu hatte ihr die Kraft gefehlt. Zu tief war der Schmerz, der sich wie eine frostige Hand um ihr Herz gelegt hatte.
Es dauerte Monate, bis ihre Wunden verheilt waren, aber die Narben saßen tief. Um sich selber zu schützen, hatte sie eine Mauer um ihr Herz und ihre Seele errichtet, die mächtiger und stärker war, als sie nur mit einem Hammer einreißen zu können.
Heute, zwei Jahre später, verlief Sarahs Leben in geregelten Bahnen. Sie hatte sich in ihrer neuen Wahlheimat eingelebt, trotz der traurigen Umstände, die sie damals veranlasst hatten, diesen Weg zu beschreiten. Jetzt hatte sie ihr eigenes Geschäft, einen Job, der ihr Spaß machte, und nette Freunde. Und mit einer von ihnen war sie am Freitagabend verabredet gewesen.
Sarah erschien eine Stunde später als ausgemacht im Pub und sah Jessica bereits in bester Gesellschaft. Wie jeden Freitag war es in dieser Lokalität brechend voll. Alle Tische waren besetzt und der Lärmpegel hoch. Doch zu dieser Jahreszeit wirkte der Pub in seinem Dämmerlicht sehr urig.
Ihre Freunde, Mark und Tom, saßen ebenfalls an der Bar an ihrem gewohnten Stammplatz, Mark zu Jessicas linker und Tom zu ihrer rechten Seite. Alle drei steckten die Köpfe zusammen und amüsierten sich prächtig. Wahrscheinlich hatte Tom mal wieder einen seiner Witze zum besten gegeben. Ursprünglich sollte es ein Mädel Abend werden und sie wollten Pläne für die Adventswochenenden schmieden. Aber wie so oft waren ihre männlichen Freunde dabei. Sarah stöhnte innerlich, hatte aber nichts gegen die Gesellschaft der beiden Männer.
Als Sarah sich durch die Menschenmenge zwängte, erhaschte sie hin und wieder anerkennende Blicke von Männern, die ihr bereitwillig Platz machten. Unbeirrt setzte sie ihren Weg zu den Freunden fort. Bevor sie die Bar erreichte, hob Jessica genau in dem Moment den Kopf in Sarahs Richtung und schaute sie mit leicht säuerlicher Miene an. Diese Gesichtszüge passten aber durchaus nicht zu ihr. Sarah kannte ihre Freundin mittlerweile so gut, dass sie wusste, dieser Zustand würde nur für ein paar Sekunden dauern. Jessica war von Natur aus ein fröhlicher Mensch und nie nachtragend.
Sie wurden Freundinnen, kurz nachdem Sarah damals in Garmisch-Partenkirchen eintraf. Jessica kaufte regelmäßig ihre Bücher in Mariannes Laden und diese war es auch, die sie miteinander bekannt machte. Auf Anhieb waren sich die jungen Frauen sympathisch und Marianne schlug vor, dass beide gemeinsam etwas unternehmen sollten, sie waren ja schließlich im selben Alter. Und außerdem tat ihrer Enkelin die Abwechslung gut.
„Hey Sarah, schon Feierabend?“, fragte Jessica mit leicht ironischer Stimme und schwenkte ihr leeres Glas Bier, um Mike, dem Barbesitzer, zu signalisieren, dass eine neue Runde fällig war.
Sarah zog ihren Wintermantel aus und legte ihn samt Mütze und Schal auf den freien Platz neben Mark. Sie schüttelte ihre Haare, an dessen Spitzen vereinzelte weiße Schneeflocken klebten, und setzte sich neben Tom auf den leeren Barhocker.
„Ich freu mich auch, dich zu sehen. Hallo zusammen. Tut mir leid, dass ich mich verspätet habe, aber im Laden war die Hölle los. Doch darüber werde ich mich nicht beklagen. Die Leute suchen nach dem passenden Geschenk zu Weihnachten. Wie ihr wisst: jeder Kunde ist König. Außerdem musste ich die letzte Bücherlieferung aus den Kartons packen und in die Regale einräumen. Sorry, aber das macht sich nicht von alleine.“ Entschuldigend hob sie die Hände. „Wie ich aber sehe, seid ihr auch ohne mich klar gekommen“, und zeigte auf die bereits geleerten Biergläser.
„Okay, okay. Ist ja schon gut. Dir sei verziehen, wenn du die nächste Runde bezahlst“, gab Jessica mit zwinkernden Augen zu verstehen.
Ein Lächeln breitete sich auf den Gesichtern ihrer Freunde aus. Der Vorschlag war einstimmig angenommen. Sarah erhob sich von ihrem Hocker und lehnte sich über den Tresen zu den Freunden hinüber, um sie nacheinander mit einem Küsschen auf die Wange zu begrüßen, wobei Mark versuchte, sie etwas länger an den Händen zu halten.
„Schön, dass du endlich da bist“, schrie er beinah über den Tresen, um den Lärmpegel zu übertönen. Ein Leuchten umfing seinen Mund. Sarah senkte den Blick und entzog ihm langsam die Hände.
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