„Du bist so still. Was ist mit dir?“ Daniel sah sie eindringlich von der Seite an.
Sarah rührte sich keinen Millimeter. Bei diesem charmanten Mann fiel es ihr unglaublich schwer, einen klaren Gedanken zu fassen, geschweige denn, einen Ton zustande zu bringen. Ihr blieben förmlich die Worte im Hals stecken. Sie wollte so schnell wie möglich nach Hause. Sie brauchte Abstand zu Daniel, um selbst erst einmal Herr über dieses Gefühlschaos zu werden.
Ihr Körper zuckte zusammen, als seine Hand ihr Kinn berührte, und er langsam ihren Kopf in seine Richtung drehte. Daniels intensiver Blick verunsicherte sie, sie konnte dem kaum standhalten, doch er hielt weiterhin ihren Kopf mit leichtem Druck fest. Nicht, dass er ihr wehtat, aber es gab kein Entrinnen. Mit ihren Augen tastete sie seine Gesichtskonturen ab, von seinen Augen über die gerade Nase und blieben schließlich an diesen sinnlichen Lippen hängen. Sie prägte sich jedes Detail ein. In Gedanken spürte sie seine geschmeidigen Lippen auf ihren, fühlte, wie er sie zärtlich küsste und sich dabei ihre Lippen öffneten.
‚Stopp!‘ ermahnte sie sich selbst. Erschrocken über ihre verselbstständigten Fantasien blinzelte sie mit den Augen. Das waren doch alles nur Wunschträume! Sarah löste ihren Kopf aus seinem Griff.
„Es ist nichts. Ich bin einfach nur kaputt. War ein anstrengender Tag“, lautete ihre knappe Antwort und wandte sich erneut zum Fenster.
Wow, sie hatte es geschafft! Drei ganze Sätze, ohne zu stottern. Erleichtert stellte sie fest, dass diese Fahrt ihr Ziel erreicht hatte.
„Wir sind da.“ Der Blick des Taxifahrers glitt über seine Schulter zu Daniel. Er nannte den Preis und Daniel zückte sein Portemonnaie. Sein Blick ruhte auf ihr, als er einen Geldschein hervorzog.
„Stimmt so.“ Er drückte dem Fahrer das Geld in die Hand und öffnete seine Tür. Zügig lief er um das Fahrzeug und öffnete Sarahs Tür. Daniel griff nach ihrer Hand und half ihr beim Aussteigen.
In der Zwischenzeit packte der Taxifahrer Skier und Stöcke aus dem Kofferraum seines Wagens und lehnte sie an die Hauswand. „Ich wünsche noch einen schönen Abend.“ Zum Gruß nickend stieg er in das Taxi, schloss die Fahrertür und brauste davon.
Sarah schaute den roten Rücklichtern des Taxis nach, öffnete den Reißverschluss ihrer Skijacke und holte den Haustürschlüssel aus der Innentasche. Daniel stand ihr gegenüber und beobachtete schweigend jede ihrer Bewegungen. Ihm entging ihre Nervosität nicht. Insgeheim hoffte Sarah, dass er nicht sah, wie ihre Hände zu zittern begannen.
Inzwischen war es fast dunkel. Die Schaufenster der Geschäfte auf der gegenüberliegenden Straßenseite waren hell beleuchtet, ringsherum schimmerte der Schnee. Auf den Gehwegen gingen ein paar Passanten, einige eilten an ihnen vorbei, eingehüllt in dicke Wintermäntel, Stiefel und die Köpfe tief eingezogen, und beachteten sie gar nicht. Die Luft wurde eisiger und der Wind blies ihnen in die Gesichter. Vom Himmel fielen ein paar zarte Schneeflocken, die wirbelnd auf dem gefrorenen Boden landeten.
„Danke fürs Bringen.“ Mit scheuem Blick sah sie zu ihm auf.
Sie wusste nicht, was sie tun sollte. Er hatte das Taxi fortgeschickt. Hieß das, dass er sie hinauf in ihre Wohnung bringen wollte oder hatte er noch etwas in der Stadt zu erledigen oder sogar eine Verabredung? Normalerweise ging sie sein Privatleben nichts an. Aber die Vorstellung, dass er sich mit einer anderen Frau traf, piekste wie feine Nadelstiche auf ihrer Haut. Augenblicklich verwarf sie diesen übelschmeckenden Gedanken. An so etwas wollte sie einfach nicht denken. Jetzt war er bei ihr und das fühlte sich so unglaublich gut an.
„Du kannst gerne noch auf einen Tee mit raufkommen, also wenn du magst? Es sei denn, du hast noch etwas anderes vor.“
Schockiert über ihren eigenen Mut drehte sie ihm rasch den Rücken zu und ging zur Haustür. Sie spürte einen leichten Schmerz im Fuß, achtete aber nicht weiter darauf. Bevor sie den Schlüssel ins Schloss stecken konnte, stand Daniel dicht bei ihr und nahm ihn ihr aus der zitternden Hand. Prüfend blickte er zu ihr hinunter.
„Ich habe nichts weiter vor, ich bringe dich in deine Wohnung und“, gab er mit rauer Stimme zur Antwort, „dein Angebot nehme ich gerne an, wenn es für dich in Ordnung ist.“
Ihr stockte der Atem. Er hatte nichts Besseres vor! Keine andere Verabredung? Sie hatte nicht ernsthaft damit gerechnet, dass er auf ihren Vorschlag einging, obwohl sie es sich insgeheim gewünscht hatte. Spürte er ihre Unsicherheit? Hin und her gerissen, ob sie wirklich das Richtige tat, schob sie eine verirrte Haarsträhne aus ihrem Gesicht.
„Ja. Kein Problem. Ich glaube kaum, dass du ein Serienmörder bist“, scherzte sie und konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen.
„Wenn es dich beruhigt, Sarah, ich bin kein Serienmörder.“ Er lachte. „Sollen die Skier auch mit rein oder soll ich sie an einem anderen Ort abstellen?“
„Hm? Was?“ Daran hatte sie überhaupt nicht mehr gedacht.
„Die Skier. Was soll mit denen werden?“ Sichtlich darüber amüsiert, dass er sie auf angenehme Weise nervös machte, zeigte er auf die Bretter an der Hauswand.
Achso, wegen der Skier war er so hilfsbereit. Er glaubte, sie käme wegen ihrer Verletzung nicht alleine zurecht. Er wollte aus purer Fürsorge und vielleicht auch wegen seiner Schuldgefühle helfen und nahm deshalb die Einladung an. Leicht enttäuscht nickte sie.
„Ähm, ja, die kommen mit ins Haus. Du kannst sie im Flur abstellen.“
Ohne ein weiteres Wort betraten sie den dunklen Flur. Daniel zog die Tür hinter sich ins Schloss und stellte die Skier gegen die Wand.
Nachdem Sarah das Licht eingeschaltet hatte, ging sie vorsichtig die Treppe zu ihrer Dachwohnung hinauf, Daniel folgte ihr wortlos. Wohl bewusst, dass ihre Kehrseite genau auf seine Augenhöhe war, legte sie, so gut es ging, einen Zahn zu. Es war das erste Mal, dass sie mit einem fremden Mann alleine in ihrer Wohnung sein würde. Sie kannte ihn ja kaum und spürte eine leise Anspannung in ihrem Körper.
Oben angekommen nahm sie ihre Schlüssel aus Daniels Hand und schloss die Wohnungstür auf. Sarah betrat ihre Wohnung, schaltete die Beleuchtung ein, legte den Schlüssel auf die Kommode und forderte Daniel auf, ebenfalls einzutreten.
Beide befreiten sich aus ihren Skijacken und Stiefeln und gingen hinüber in den Wohnbereich. Seine stattliche Figur ließ ihr ihre Wohnung irgendwie kleiner erscheinen. Die Luft zum Atmen erschien ihr begrenzt und war auf einmal so geladen, dass sie beim kleinsten Funken zu explodieren drohte.
„Hier ist es aber kalt! Hast du vergessen, die Heizung einzuschalten?“, stellte Daniel, sich die Hände reibend, fest.
„Mist, sorry. Aber meine Heizung spinnt mal wieder. Nächste Woche muss ich unbedingt eine Heizungsfirma anrufen, die sich das mal anschaut. Ich hoffe, es ist nicht allzu viel kaputt.“
In Wirklichkeit wusste sie aber genau, dass eine Generalüberholung der Heizungsanlage unabwendbar war, denn diese hier hatte schon viele Jahre auf dem Buckel. Sarah schob diese lästige Angelegenheit seit dem letzten Winter immer wieder vor sich her, weil sie ahnte, dass die Reparatur eine sehr teure Angelegenheit werden würde. Viel Erspartes hatte sie nicht vorzuweisen und konnte es sich einfach nicht leisten, da der Laden nicht genug abwarf. Keinesfalls wollte sie das jedoch Daniel unter die Nase reiben. Das ging ihn nichts an.
Zum Glück gab es in dem hinteren Wohnbereich einen kleinen Kamin, den Daniel auch sofort entdeckte. Selbstsicher steuerte er darauf zu. „Was hältst du davon, uns einen Tee zu kochen, und ich bringe den Kamin in Gang? Sonst erfrierst du ja noch in deinen eigenen vier Wänden.“
Dankend nahm sie seinen Vorschlag an.
Sie beobachtete, wie er das Kaminholz aus dem Holzkorb nahm und zum Kamin schaffte. Er zündete ein paar dünne Brennhölzer an und es dauerte nicht lange und ein Feuer entfachte. Damit kannte er sich anscheinend aus.
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