In den zurückliegenden Jahrzehnten hatten die Spanier immer versucht, › Maracas ‹ zu erobern und das Räubernest auszuräuchern. Allerdings hatten sie dabei jedes Mal eine Niederlage erlitten und sich blutige Köpfe geholt. Ein einziges Schiff reichte aus, um die Einfahrt mühelos zu verteidigen. Es war in der Lage sich selbst gegen eine ganze Flotte zu halten. Wenn sich ein vorwitziger spanischer Capitán zu nahe an die Einfahrt heranwagte, geriet er direkt in das Feuer der gut positionierten Festungsgeschütze und gab seine Absicht recht schnell wieder auf.
Ein Angriff zu Wasser war also praktisch unmöglich und ein Ansturm zu Lande von vornherein zum Scheitern verurteilt, denn die Insel war mit undurchdringlichem Urwald bewachsen. Dort standen unter anderem Bananenbäume, Kokospalmen und Zedern. Man hätte vielleicht in mühevoller Arbeit Schneisen in das Dickicht schlagen können, und man hatte es auch tatsächlich bereits versucht, aber letztlich war man nicht wirklich weitergekommen. Außer Affen, Ameisen, Faul- und Beuteltieren gab es dort auch höchst angriffslustige Wildschweine und Schlangen. Besonders die Schlangen waren von den Spaniern gefürchtet. Und als wenn das nicht bereits ausreichte: ein großer Teil des Gebietes bestand aus Sumpfseen, die alle miteinander verbunden waren und tausenden von Alligatoren als Zufluchtsstätte dienten. Nicht einmal die Piraten, die › Maracas ‹ seit ungezählten Dekaden bewohnten, wagten sich in dieses Gebiet vor. So oft auch einer der ihren den Held hatte spielen wollen und mutig in das Waldgebiet aufgebrochen war – er war nicht zurückgekehrt. Schlussendlich hatte › El Manco ‹ derartige Vorhaben bei schwerer Strafe verboten.
Die alles beherrschende Befestigung des Platzes war ein primitiv angelegtes Rundfort, dessen Fundament geräumige Höhlen enthielt, die als Verpflegungslager sowie Munitions- und Pulverkammern dienten. Darüber erhob sich ein Gewirr von Räumen, die › El Manco ‹ mit seiner Familie und seinen Unterführern bewohnte.
Über diesem Stockwerk waren die zwanzig Geschütze hinter yarddicken Mauern verbaut. Durch einen Schacht und einen primitiven Aufzug waren sie mit dem Munitionslager verbunden. Auf der Spitze des Turms befand sich ein Ausguck, der Tag und Nacht durch einen Vierfachposten besetzt war. So gesichert, glaubten sich die Piraten bis in alle Ewigkeit halten zu können.
*
Der März des Jahres 1762 war besonders heiß und unerträglich. Er gehörte zur hochsommerlichen Trockenperiode. Lediglich bei Nacht schufen die kühlenden Meereswinde ein erträgliches Klima, und deswegen hatte › El Manco ‹ eine kleine Siegesfeier auf die Nachtstunden verlegt. Etwa vor einer Woche hatte er mit seinen Schiffen › Esperanza ‹ und › Canalegas ‹ nach einem mehrere Monate dauernden Raubzug durch ganz Westindien wieder in › Maracas ‹ festgemacht und die reiche Beute verteilt. Jetzt wollte er sich mit seinen Männern wenigstens einige Wochen der Ruhe gönnen, bevor es auf einen neuen Raubzug gehen sollte.
Von den Hütten der Piraten am Fuß des Berges her drang wüstes Gegröle und Randalieren ins Fort hinauf. › El Manco ‹ selbst hatte sich mit seinen engsten Vertrauten in den großen Wohnraum zurückgezogen. Es war ein hinter dicken Mauern verborgenes Zimmer, in das durch scheibenlose Schießscharten erfrischende Winde eindringen konnten.
Der Raum war mit den besten und kostbarsten Beutestücken der letzten Jahrzehnte eingerichtet und vollkommen mit Holz vertäfelt. Hier waren kostbare Möbel aus Kapitänskajüten, Teppiche aus aller Herren Länder, goldene und silberne Kerzenkandelaber und allerfeinstes Geschirr aus Gold und getriebenen Silber zu finden.
Die letzten fünfzehn Jahre waren an › El Manco ‹ nicht spurlos vorübergegangen. Inzwischen hatte er seinen fünfzigsten Geburtstag gefeiert und wog gut einen halben Zentner mehr als zur Zeit seines Kampfes mit der › Coronation ‹. Von seinen damaligen engsten Vertrauten waren nur noch Ramon und › Relámpago ‹ am Leben. › Pie Zopo ‹ hatte sich schon vor vielen Jahren zu Tode getrunken.
Auch der fuchsgesichtige › Relámpago ‹ war reifer geworden. Lediglich an Ramon schienen die anderthalb Jahrzehnte spurlos vorübergegangen zu sein. Er war womöglich noch feiger, noch gemeiner und noch verschlagener geworden – nur gealtert war äußerlich nicht.
Auch Concepcion, › El Mancos ‹ Weib, und sein sechzehnjähriger Sohn Alejandro nahmen an dem Gelage teil. Trotz ihrer erst fünfundvierzig Jahre war Concepcion aufgeschwemmt. Sie wirkte verfallen und hatte sich zu einer richtig alten Hexe entwickelt. Zwei Jahrzehnte zuvor hatte der damals dreißigjährige › El Manco ‹ Concepcion, die auf einem portugiesischen Segler als Sklavin des Capitáns ein entwürdigendes Dasein geführt hatte, befreit. Später hatte er die bildschöne, schwarzhaarige Frau kurzentschlossen zu seiner Gemahlin gemacht. Doch wenngleich von ihrer rassigen Schönheit nichts mehr übrig war, war ihr › El Manco ‹ immer noch von Herzen zugetan und führte mit ihr eine gute Ehe.
Sein Sohn Alejandro war aus der Art geschlagen. Trotz seiner kaum sechzehn Jahre, war er ein vollentwickelter, breitschultriger Mann mit schmalen Hüften, einem offenen, interessanten Gesicht und dichtem, blonden Haar. Wer die Verhältnisse nicht kannte, hätte Alejandro niemals für eine Mischung aus Concepcions und › El Mancos ‹ Blut gehalten.
Die Männer tranken schweren Rotwein und Concepcion tat es ihnen gleich; daneben rauchte sie genauso gern ihre lange Pfeife wie ihr Mann, Ramon und › Relámpago ‹.
› El Manco ‹ fühlte sich wohl. Er kam ins Bramabrasieren – ins Angeben wie ein Sack Seife. Er erzählte von den schweren, entbehrungsreichen Monaten, die hinter ihnen lagen, und stellte mit Befriedigung fest, dass die Augen seines Sohnes wie gebannt an seinen Lippen hingen.
»Das nächste Mal darf ich mit!«, sagte Alejandro in eine kleine Pause hinein. Seine Augen waren dabei bettelnd auf seinen Vater gerichtet.
Ehe sich ›El Manco‹ dazu äußern konnte, ergriff Ramon das Wort. »Querido Dios, Capitán!«, begann er. »Er ist noch viel zu jung. Unser Handwerk ist etwas für wahre Männer … und nichts für Knaben!« Er war der einzige, der den jungen Alejandro nicht mochte, und äußerte sich abfällig oder spöttisch wann immer er nur konnte.
Alejandro lief rot an. »Spare dir deine Beleidigungen, Ramon«, gab er schneidend zurück, »sonst sehe ich mich genötigt, dir zu zeigen, wer hier der Herr ist … nach meinem Vater.«
Ramon beugte sich zurück und begann brüllend zu lachen, bis er sich verschluckte und zu ersticken drohte. »Vorsicht mit den Worten, ›Señor Capitán‹!«, fuhr er fort, wobei ihn noch immer ein hämisches Lachen schüttelte. »Mit Worten ist das so eine recht sonderbare Sache. Man kann sich dabei schnell um Kopf und …«
»Nur zu, Ramon!« In Alejandros Augen blitze es drohend auf. »Ich hätte nichts dagegen!« Er kleidete sich schon lange wie ein Schiffsoffizier und tat es damit seinem Vater gleich. Aber er bestach mehr durch Schlichtheit und die Wirkung seiner Persönlichkeit. Von Prunksucht und äußerem Luxus hielt er nicht viel.
»Wie wäre es mit einem kleinen Gang?«, fragte Ramon herausfordernd.
›El Manco‹ schrie erschrocken auf und musterte seinen Stellvertreter drohend, konnte aber nicht verhindern, dass die beiden Kampfhähne hitzig auffuhren: Ramon, der mehr durch Verschlagenheit, List und Tücke, als durch Mut glänzte, und der junge feurige Alejandro in seinen, wie er wähnte, heiligsten Gefühlen beleidigt. Sofort zogen beide blank.
›El Manco‹ wollte sich dazwischenwerfen, wurde aber von seinem Sohn zurechtgewiesen.
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