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Zum ersten Mal sollte sich seine Vorhersage nicht erfüllen. Die Spanier dachten gar nicht daran, die Festung mit ihren unzureichenden Artilleriemitteln zu beschießen. Dafür stellten sie sich in einem großen Halbkreis um die Mündung der Einfahrt zur Bucht auf und verhielten sich still.
Der sonderbare Zweimaster aber, den sie in der Mitte platziert hatten, trieb allmählich nach Osten ab, so dass inzwischen nur mehr seine Mastspitzen über den Urwald ragten. Aber auch die verschwanden nach einiger Zeit, gerade so, als habe man sie von Geisterhand entfernt.
»Sonderbar … höchst seltsam«, murmelte ›El Manco‹. »Sieht mir ja fast danch aus, als besitze dieses Schiff umlegbare Masten …!« Besorgt kratzte er sich am Kinn. »Das will mir gar nicht gefallen!«
Alejandro machte eine wegwerfende Bemerkung, die im lauten Knallen zahlreicher Abschüsse unterging.
Mit einem einzigen Schlag waren die zwanzig Achtzehnpfünder der Festung abgeschossen worden. Heulend und jaulend traten sie ihre Bahn an. Doch die Salve der Batterie lag zu weit. Ohne einen Schaden anzurichten, klatschten alle Vollkugeln jenseits der spanischen Flotteneinheit ins Wasser.
»Du musst kürzer halten, Ramon!«, rief ›El Manco‹ unzufrieden. »Wie weit sind die Glühkugeln?«
»Sind gleich soweit. Noch etwa fünf Minuten!«
»Ist gut!«
Die Artilleriestellung besaß nach Süden hin einen eigenen mächtigen Abzugskamin. Unter dem befanden sich ein halbes Dutzend Kohlebecken, in denen je drei Vollkugeln über einem Holzfeuer glühend gemacht wurden.
Die von Ramon angegebenen fünf Minuten verstrichen, ohne dass der Feind auch nur einen einzigen Schuss abgegeben hatte.
Inzwischen waren die Geschütze der Piraten erneut nachgeladen worden. Eine zweite Salve verließ die zwanzig Rohre und brachte, wie ›El Manco‹ vom Kommandostand aus beobachten konnte, den Spaniern nur geringen Schaden bei. Erstaunlicherweise verzichteten diese aber immer noch auf einen Gegenschlag.
»Glühkugeln sind fertig!«, meldete der Feuerwerker.
Eilig wurden die Kanonen auf ihren quietschenden Rädern zurückgerollt. Das Schießen mit den Glühkugeln erforderte ein speziell entwickeltes und keineswegs ungefährliches Vorgehen. Wie bei jedem Schuss wurden die Rohre sorgfältig gereinigt und dann mit Pulversäckchen geladen. Anschließend fischten die Ladekanoniere aus mächtigen Wassertrögen kleine Ballen heraus, deren Zusammensetzung sorgfältig geheim gehalten wurde, aber im Wesentlichen aus gepresstem Gras, Holzwolle und Lumpen bestand.
In jede Kanone wurde einer dieser Ballen eingeführt, während das Personal des Feuerwerkers die Glühkugeln mittels langer Greifzangen aus dem Kohlebecken nahmen und sie eilig in die Mündungen der Vorderlader stopfte, so dass zwischen der empfindlichen Pulverladung und den glühenden Geschossen die vorher eingeschobenen nassen Puffer zu liegen kamen. Diese Puffer waren als sogenannter Glühschutz eminent wichtig. Waren sie nicht dick oder feucht genug, dann setzte die glühende Kugel die Pulverladung sofort in Brand, und die Kugel verließ das Rohr zu früh. In der Regel zerriss sie dabei auch gleich den Ladekanonier, der sie zuvor mit einer langen Eisenstange eingeschoben hatte. Mit anderen Worten, schon allein der Ladevorgang verlangte ein ungeheures Ausmaß an Mut. Andererseits konnte es geschehen, dass das Pulver überhaupt nicht oder erst sehr verspätet zündete, sofern die dampfenden Puffer zu fest oder zu nass waren. Allein ihre Herstellung erforderte großes Wissen, Fingerspitzengefühl und jahrelange Erfahrung. Immer wieder kam es vor, dass ein Schuss zu früh losging und die eigene Artilleriemannschaft dezimierte.
Es war den Ladekanonieren also nicht verdenken, dass sie ihrer lebensgefährlichen Verrichtung nur unter Todesangst und mit entsprechendem Zittern nachgingen. War ein Geschützrohr geladen, wurde es sofort ausgerannt und verkeilt. Danach zündete der Richtkanonier mit der am Lunteeisen befestigten glimmenden Lunte. Ein Schuss nach dem anderen wurde ausgelöst.
Für die Männer im Kommandostand war es ein schaurig schönes Bild zu sehen, wie die glühenden Kugeln, Meteoren gleich, ihre steile Bahn zum Himmel zogen, am Kulminationspunkt zu verharren schienen, um gleich darauf mit sich stets vergrößernder Geschwindigkeit auf dem absteigenden Ast der Parabel dem Ziel entgegenzustürzen.
›El Manco‹ lachte vergnügt vor sich hin. Die erste Salve mit den Glühkugeln lag bemerkenswert gut im Ziel. Auf zwei spanischen Schiffen waren Brände entstanden. »Siehst du das, mein Junge«, prahlte er sarkastisch. »Sie haben es nicht besser wissen, … es nicht besser glauben wollen, diese verfluchten Spanier! Aber jetzt haben wir sie eines Besseren belehrt. Du wirst ihre Schreie bis zu uns herauf hören, wenn erst die Brände nicht mehr zu löschen sind. Sie werden heulen und wehklagen, wenn sie bei lebendigem Leib geröstet werden.« In das Ende seines Satzes tönte eine einzige, schmetternde Detonation.
Eigentlich hätte ihm bereits von vornherein klar sein müssen, dass die Spanier etwas Besonderes im Schilde führten, nachdem sie bisher nicht einen einzigen Schuss abgegeben hatten und stattdessen wie eine Herde Schafe den Beschuss der Piraten hatten über sich ergehen lassen.
Was jetzt folgte, ließ ihn und seine Leute in eisigem Schrecken erstarren. Sekundenbruchteile nach dem Abschussknall stieg ein riesiges Geschoss in den Himmel empor. Es zog einen langen Feuerschweif hinter sich her, begleitet von einem satanisches Zischen, das alle anderen Geräusche übertönte.
Ehe ›El Manco‹ und seine Männer begriffen, was geschehen war, stürzte sich das sonderbare Geschoß steil von oben her auf die Festung. Es schlug, nur wenige Faden entfernt, an deren Fuß ein und entwickelte an der Einschlagstelle eine riesige glühende Sonne, gefolgt von einer infernalischen Explosion. Nie zuvor hatten die Bukaniere ein derartiges Krachen und Bersten vernommen. Gleich darauf folgte ein Heulen und Prasseln und tausende Eisentrümmer fielen wie zerhacktes Blei zu Boden.
»Querido dios! Qué diablos!?«, stöhnte ›El Manco‹ zu Tode erschrocken, als er endlich die Sprache wiedergefunden hatten. »Jetzt verstehe ich, was die verdammten › Hijos de Putas ‹ im Schilde führen! Sie haben eine Sprengbombe auf uns abgeschossen …!«
»… die durch einen Treibsatz angetrieben wird!«, ergänzte Alejandro totenbleich den Satz. »Jetzt wissen wir endlich, welche Überraschung das Schiff mit den umklappbaren Masten für uns bereithält.«
Obwohl der tiefsitzende Schrecken und das unglaubliche Entsetzen die Männer zu lähmen drohte, hielten sie die Disziplin und schossen im Verlauf der nächsten Stunden pausenlos zurück. Aber ihr Erfolg war zweifelhaft, da die Spanier ihre Taktik beharrlich weiter verfolgten und sich allmählich so weit von der Küste zurückgezogen hatten, dass die Treffsicherheit der Festungsgeschütze gegen null ging. Gleichzeitig aber feuerten sie in einem regelmäßigen Zehnminutentakt eine Sprengbombe nach der anderen auf das Befestigungswerk ab.
»Ab sofort das Feuer nur noch auf das Spezialschiff!«, rief ›El Manco‹ Ramon während einer Feuerpause befehlend zu. »Auch wenn wir es leider nicht sehen können. Aber ich habe von hier oben aus die ungefähre Richtung. Jage ganz einfach Schuss um Schuss auf den Zweimaster. Erforderliche Korrekturen gebe ich dir durch das Sprachrohr!«
Ramon bestätigte den erhaltenen Befehl und gehorchte.
Schon die nächste Salve an Glühkugeln lag gut. Aber dem spanischen Schiff schienen sie nichts auszumachen, denn die Quittung erfolgte prompt. Allerdings lag der Schuss diesmal zu kurz und detonierte mitten unter den Häusern der kleinen Siedlung. Sofort züngelten Flammen aus einer der Hütten. Das ausgedörrte Holz brannte wie Zunder. Eine dichte Qualmwolke erhob sich über dem Ufer und vernebelte die Sicht. Dann griffen die Flammen auf die anderen Hütten über. Keine Viertelstunde später waren die Behausungen der Piratenmannschaft ein prasselndes Flammenmeer, und nach einer Stunde waren nur mehr verkohlte, glimmende Reste übrig.
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