Die Artilleriemannschaft war auf ihrem Posten. Ihre Lunteneisen glommen seit Stunden unter dem Schutz großer Segeltuchblenden. Kein Lichtschein konnte zur › Coronation ‹ hinüberdringen, die, illuminiert wie ein Christbaum, ihre Bahn zog.
*
Für die Korvette sollte sich die trügerische Ruhe der milden Nacht bald in einen brodelnden Hexenkessel verwandeln.
Ein alter, erfahrener Matrose stand am Ruder der › Coronation ‹, während Captain Moore persönlich, die soeben übernomme Hundswache hielt. Ein zufriedenes Lächeln umspielte seine vollen, genusssüchtigen Lippen. Er glaubte zu wissen, dass nun nichts mehr schief gehen könne. Inzwischen hatte sich sein Schiff schon sehr weit den Gewässern um Jamaica genähert. Jeden Moment glaubte er, in Berührung mit einem eigenen Schiffsverband zu kommen. Dann war alles gut.
Im Innersten seines Herzens ein Feigling, berührte Moore die nachmittägige Begegnung mit dem sonderbaren Dreimaster doch wesentlich mehr, als er Lieutenant Retcliffe gegenüber zugegeben hatte. Er war sogar fast der gleichen Meinung gewesen, wie der viel jüngere Erste Offizier, hatte diese aber unterdrückt, um Retcliffe nicht recht zu geben. Denn das wäre für ihn gegen alle erprobten Regeln seemännischer Subordination gewesen.
Ein leiser Schritt hinter seinem Rücken ließ ihn herumfahren. »Ich dachte, Ihr hättet Euch längst zur Ruhe begeben, Mr. Retcliffe!«, rügte er seinen Ersten Offizier in schulmeisterlicher Manier.
»Ich finde einfach keine Ruhe, Sir«, brach es aus Retcliffe gequält heraus.
»So? … Ihr findet also einfach keine Ruhe?«
Der Lieutenant zuckte die Achseln. »Verzeiht, Sir. Ich komme gerade aus dem ›Krähennest‹. Ein schwarzer Schatten verfolgt uns beharrlich. Es ist der Dreimaster von heute Nachmittag! Er segelt ohne Licht, ja sogar ohne Positionslaternen!«
Moore überwand seinen Ärger. »Ihr seht Gespenster, Mr. Retcliffe«, zwang er sich zu sagen. »Was macht Euch so sicher, dass der schwarze Schatten mit dem Dreimaster identisch ist?«
»Mein Gefühl, Sir!«
»Seit wann gibt ein britischer Marineoffizier etwas auf seine Gefühle, Mr. Retcliffe?«
»Die Gefühle sind es nicht allein, Sir!«, erwiderte der Lieutenant. »Entert auf, und Ihr werdet selbst sehen, was auch der letzte Matrose sieht! Der Schatten verfolgt uns, und er hat nichts Gutes im Sinn!«
»Alles Unsinn!«, murmelte der Captain wider besseres Wissen. »Was kann uns schon passieren? Die Geschütze sind ausgerannt und geladen. Die Mannschaft schläft daneben an Deck. Außerdem brauche ich nur noch mehr Leinwand setzen zu lassen und wir sind schnell genug, um selbst dem Teufel aus der Hölle davonzusegeln! Es gibt kein schnelleres Schiff auf dem Karibischen Meer als das unsere.«
Lieutenant Retcliffe verzichtete auf eine Antwort. Mit einer vagen Geste wandte er sich ab. Mit dem Captain ist nicht zu reden. Mag das Unheil seinen Lauf nehmen , dachte er bei sich, wenn es das Schicksal so bestimmt hat, soll es so sein . Unwillkürlich musste er an die acht Glasen denken, die erst vor einer Viertelstunde geschlagen worden waren. Sie bedeuteten für ihn und alle Seeleute nicht nur das Ende einer Wache, sondern waren auch Symbol für den Übergang vom Leben zum Tod. Zu oft schon hatte er den viermaligen Doppelschlag bei einer Bestattung eines Kameraden vernommen. Ein schlechtes Omen, das sein Bauchgefühl nur noch zusätzlich verstärkte.
***
Kapitel 4
Es war, als würde Captain Moore in seiner Verblendung dem Piraten in die Hand arbeiten. Die ›Esperanza‹ hatte die ›Coronation‹ nämlich bereits steuerbords überholt und segelte nun in einem Abstand von kaum einmal anderthalb Seemeilen neben dem Engländer her. Selbst der Dümmste hätte spätestens jetzt die üblen Absichten des anderen erkannt. Nur Captain Moore nahm sie nicht wahr und unternahm entsprechend auch nichts. Sein Ehrgeiz ließ es einfach nicht zu, dem blutjungen Lieutenant am Ende doch noch recht zu geben.
Urplötzlich und ohne jede weitere Vorwarnung bekam die Nacht feurige Löcher …
… und im gleichen Augenblick trug der Wind den Geschützdonner an die Ohren der aufgeschreckten Briten. Ein hohles Heulen, ein Flattern und Brausen erfüllte die Luft.
Die erste Achtzehnpfünder rauschte heran und schlug vielleicht dreißig Faden vor der Korvette ins Meer. Eine Wasserwoge stieg auf.
Lieutenant Retcliffe drohte das Herz vor Schrecken stillzustehen, und der Kadett neben ihm begann unwillkürlich zu schluchzen.
Erst jetzt wurde der Captain energisch. Herrisch stieß er den Rudergänger zur Seite und griff selbst in die Speichen des Rades.
Schon heulte eine ganze Breitseite des Dreimasters heran. Pulverdampf stand wie eine schwarze Nebelwand zwischen den beiden Schiffen.
Blitzschnell drehte Moore das Steuerrad. Der Druck des Windes drohte die ›Coronation‹ zum Kentern zu bringen. Aber es gelang ihm, so weit außer Kurs zu kommen, dass das Schlimmste verhindert wurde. Ganze Wasserschwaden schlugen über dem Kriegsschiff zusammen.
Mit verkniffenen Lippen stand der Captain am Steuer und starrte mit glühenden Augen in die Nacht. Gegen jede Regel verzichtete er auf eine Veränderung der Segelstellung und versuchte in wildem Zick-Zack-Kurs aus der Reichweite der feindlichen Geschütze zu fliehen. Jetzt rächte sich, dass er nicht längst den letzten Fetzen Segel hatte setzen lassen.
Unaufhörlich schlingerte die Korvette von Luv nach Lee und von dort wieder nach Luv. Sie zitterte wie ein nervöses Rennpferd und ächzte an Stellen. Zwar wäre es für sie ein Kinderspiel gewesen, der Reichweite ihres Gegners zu entkommen, aber die kurze Zeitspanne, die dazu nötig war, genügte der › Esperanza ‹ bereits, ihre teuflische Absicht in die Tat umzusetzen.
Moore hatte dank seines Könnens am Steuerrad der ersten Batteriesalve noch ausweichen können … aber in die nächste raste er geradezu hinein. Zwar sah es danach aus, als habe sich die Entfernung zwischen den beiden Schiffen so weit vergrößert, dass ein gezielter Schuss nicht mehr möglich sei, aber die Tatsachen sollten ihn schon bald eines anderen belehren.
Eine weitere Salve rauschte heran, und ein Großteil der Geschosse lag genau auf Deck. Der Vormast brach und riss Wanten und Backstagen mit sich. Sekundenlang lag eine schmerzende Stille über der schwer angeschlagenen Korvette. Danach stieg das Schreien, Wimmern und Fluchen der Verwundeten und das Heulen der Sterbenden grässlich gen Himmel.
Captain Moore war wie gelähmt und keiner Regung fähig.
Lieutenant Retcliffe, der sich selbst in seiner Todesangst für den Captain schämte, ergriff ein Sprachrohr und übernahm es, die erforderlichen Befehle zu brüllen: »Alle Mann den Vormast abschlagen! Das Tauwerk kappen und den Besanmast aufrichten!«
Auch der Mannschaft lähmte das nackte Entsetzen die Glieder. Aber noch einmal behielt die eiserne Disziplin der britischen Seeleute die Oberhand über die menschliche Schwäche.
In Scharen stürzten die Marinesoldaten ihrer Majestät mit Messern und Enterbeilen auf die Trümmer zu, um das Deck zu räumen. Die Arbeit ging schnell voran, aber doch nicht schnell genug. Der überhängende Mast und das ein wilde Knäuel bildende Segelwerk, das wie eine massive Bremse wirkte, brachte die Korvette außer Kurs, obwohl Moore mächtig gegensteuerte. Doch kaum war der Vormast samt Tauwerk über Bord, bekam er die › Coronation ‹ wieder unter seine Kontrolle.
Eifrig wurde der Besanmast zusammengesetzt und aufgerichtet. Aber Retcliffe war sich sicher, dass dennoch alles verloren war. Die Besansegel konnten in frühestens zwanzig Minuten aufgezogen sein, eine Spanne, die dem bereits verwundeten Schiff nicht mehr zur Verfügung stand.
***
Kapitel 5
Der einarmige Capitán der ›Esperanza‹ war in seinem Element. Vor lauter Vergnügen hüpfte er an seinem Kommandostand von einem Bein auf das andere. »Der Bursche macht mir Spaß«, brüllte er freudig. »Er wehrt sich, wie sich eine Maus wehrt, wenn eine Katze sie gestellt hat. Er vergisst nur eines, … selbst eine Breiteseite abzufeuern!«
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