„ Du hast unser Essen geklaut“, entgegnete Thor.
Odin hob die Hand. „Jetzt vergiss endlich mal das Essen.“ Er ging in die Hocke. „Zusammengesetzt hat man dich also. Wer hat das getan?“
Das Wesen sah sich nach allen Seiten um, ehe es flüsterte: „Marijel war es.“
Das erste Mal, seit das Wesen aufgetaucht war, hob die Fylgja den Kopf und spitzte die Ohren.
„Ist das ein zauberkundiger Feuerriese?“, forschte Odin.
„Nein, nicht doch. Feuerriesen wohnen in Mitte von Welt. Sie scheren sich nicht um Steine“, erwiderte es.
„Du kennst dich wohl gut aus“, brummte Tom.
„Muss sein, wenn man im Dienst von ...“ Er duckte sich und wisperte die restlichen Worte: „Muss sein, wenn man im Dienst von Djinn steht. Sonst Ärger.“
Thea durchfuhr ein Blitz.
Wal-Freya zog in einer dunklen Vorahnung die Augenbrauen zusammen. „Sagtest du Djinn?“
Das Wesen legte zischend den Finger vor den Mund. „Leise! Wenn man Namen von Meistern ausspricht, hören sie.“
„Marijel oder Djinn?“, fragte Thor, worauf das Wesen hinter dem Finger energischer zischte.
„Du darfst Wort nicht aussprechen. Alle hören darauf!“
„Djinn also“, vermutete Thor.
Jetzt stampfte das Wesen mit den Füßen und ballte zornig die Fäuste. „Ich gehe! Ihr bringt Ärger. Ich habe kein Interesse auf Begegnung mit Meistern. Tschüss! Habt langes, glückliches Leben.“
Es winkte, drehte sich um und war im Begriff wegzurennen, da schnappte Wal-Freya es an der Schulter.
„Bleib! Nicht einer wird den Namen noch einmal benutzen. Das verspreche ich.“ Sie warf Thor einen vernichtenden Blick zu, worauf dieser die Augenbrauen hob und seufzend mit der Zunge schnalzte.
„Du hast also im Dienste von denen gestanden?“, fragte die Walküre sorgsam.
„Von denen.“ Das Wesen nickte heftig.
„Und du bist geflohen.“
„Mit viel Glück! Noch hat mich niemand gefunden. Ist nicht schön als Sklave.“
„Sklave?“, wiederholte Juli empört.
„Ja. Den ganzen Tag geht es so: mach dies, putz das, hol das, koch Tee ... und wenn es nicht richtig ist, Bestrafung. Manchmal hängen sie dich an Wand, oder mit Fuß an Decke.“
„Da wäre ich auch geflohen“, merkte Tom an.
„Aber hier draußen kein Essen. Ich trinke Lava, knacke Steine, doch viel besser ist Scheibe Brot.“
„Mich wundert es, dass jemand, der hier lebt, Brot kennt“, warf Thea ein.
Das Wesen sah erstaunt zu ihr. „Meister haben allerlei zu Essen. Brot, Äpfel, Feigen, Linsen ...“
Wal-Freya griff nach ihrem Quersack und zog einen Krapfen hervor. Sie setzte sich und hielt ihn dem Wicht hin.
Thor blickte leidend. „Du hattest also doch noch einen.“
„Den habe ich für Notfälle aufgehoben. Wie ich sehe, war es richtig, ihn zurückzuhalten.“
Das Wesen trat mit einem dankbaren Lächeln näher und hockte sich nieder. Die anderen steckten die Waffen weg und folgten seinem Beispiel. Während das Wesen seinen Krapfen kaute, guckte es fröhlich in die Runde. „Ihr seid freundliche Leute. Ihr solltet nicht in Heimat von Meistern gehen. Stadt ist gefährlich.“
„Wir hatten nicht vor, in die Stadt deiner Meister zu gehen“, brummte Thor.
„Zumindest nicht wissentlich“, ergänzte Odin.
„Es sieht aber so aus, als wollt ihr dort hin. Ihr geht direkt drauf zu.“
„Wir suchen Surtr“, erklärte Thea. Sie fing sich vier empörte Blicke ein, doch das Wesen antwortete so rasch, dass ihr Vorstoß sofort in Vergessenheit geriet.
„König von Welt lebt weit hinter Stadt von Meistern. Manchmal kommt er mit Pferd und reitet durch Straßen. Surtr ist sehr großer Riese und gefährlich. Ihr solltet nicht zu Surtr gehen.“
„Du kennst dich wirklich gut aus“, erkannte Wal-Freya.
Das Wesen lächelte stolz. „Man hört mal dies, man hört mal das. Zuweilen sieht man auch einfach mit Augen.“
„Wie müssen wir also unsere Richtung ändern, damit wir nicht in die Stadt geraten?“, fragte die Walküre.
„Geht einfach nach links oder rechts, nicht geradeaus“, antwortete es.
„Wie lange?“, fragte Odin.
„Lange. Ganz oft werdet ihr noch Hunger haben.“
„Wieso sollten wir Umwege laufen? Ich habe keine Angst vor ein paar Djinn“, murrte Thor.
Das Wesen zischte aufgebracht. Beunruhigt drehte es den Kopf und sah in alle Richtungen.
„Du sollst das Wort doch nicht sagen“, erinnerte Juli.
„Ich laufe trotzdem keine Umwege, nur weil so ein dahergelaufenes Fressmonster es sagt.“
Trocken merkte Odin an: „Du bist der Einzige, der läuft.“
Tanngrisnir und Tanngnjostr blökten.
„Egal. Wer fürchtet schon ein paar ...“ Das Wesen hatte den Finger bereits auf den Mund gelegt. Thor sah es seufzend an. „... Meister.“
„Nimm es nicht auf die leichte Schulter! Erinnere dich daran, welche Schwierigkeiten uns Jekuthiel damals bereitet hat“, sagte Wal-Freya.
„Der hat uns gar keine Schwierigkeiten bereitet. Das war Loki“, versetzte Thor.
Das Wesen duckte sich verängstigt, als es den Namen des Djinn vernahm.
Thea bemerkte es wie alle anderen. „Kennst du ihn?“
„Sehr, sehr böser Meister. Noch nicht lange wieder da, aber sehr böse zu uns.“
Thea sah besorgt zu Wal-Freya, die ihr mit einem eindringlichen Blick zu verstehen gab, Ruhe zu bewahren. Sie drückte dem Wesen einen Apfel in die Hand, den es dankbar annahm und mit sichtbarem Genuss verspeiste. Nachdenklich fragte sie Odin: „Ist dir jemals zu Ohren gekommen, dass Dji... dass sich die hier in Muspelheim aufhalten?“
„Nein, aber in ihnen würden wir vielleicht mächtige Verbündete gegen Surtr finden“, brummte Odin.
„Verbündete?“, wiederholte Juli fassungslos.
Wal-Freya traute ihren Ohren kaum: „Hast du in Erwägung gezogen, dass sie in friedlicher Koexistenz mit den Feuerriesen leben? Wenn sie eine Stadt bewohnen und Surtr sie auf seinem Ritt hindurch nicht zerstört, werden sie sich bestimmt nicht gegen ihn stellen.“
„Ganz im Gegenteil sogar“, stimmte Thor zu.
„Also?“, fragte Juli.
„Wir gehen der Stadt aus dem Weg“, antwortete Odin.
„Wirklich jetzt?“, staunte Tom.
Odin lächelte. „Furchtloser Junge. Manchmal ist Vernunft der bessere Weg.“
Thea und hob das Kinn in Richtung des Lavagnoms. „Nehmen wir ihn mit?“
„Daran habe ich auch gerade gedacht. Kommst du mit uns, Kleiner?“, fragte Wal-Freya.
Verblüffung spiegelte sich im Gesicht des Wesens wieder. „Ich? Euch begleiten? Wozu?“
„Weil ein Riese und eine dreifaltige Göttin noch nicht genug Mitbringsel für Asgard sind“, seufzte Odin.
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