Sie halten ihn noch in der Zange und ich verschwinde. Danach bin ich geschockt. Nicht wegen des »Überfalls«, nein, damit wär ich allein klargekommen. Aber weil meine Befreier mich eingestuft haben als die »Alte« von dem runtergeschlunzten Klappergestell mit schnapsiger Fahne – das hat mir ’nen Schock versetzt. ... Seh ich etwa so aus?◄
Herausfordernd schlägt Isolde die Beine übereinander. Alle, sogar Euline, lächeln nachsichtig und betrachten die Freundin: den gepflegten, heute weißblond gefärbten Bürstenschnitt, die noch sportlichen Waden, das auf die Farbe der Bluse abgestimmte Make-up und die Brosche, die glitzernde Silberrose.
Kommt drauf an, welche Haarfarbe du an dem Tage..., möchte Božena sticheln, aber ein Blick von Caminchen bringt sie zum Schweigen. Jetzt kein Wort mehr davon, bittet die Gastgeberin, sonst kommt Euline gar nicht zur Ruhe, sie kann später berichten... Es ist eingegossen und alle sehen erwartungsvoll der echt Dresdner Stolle entgegen. Isolde greift nach einer Zeitschrift vom niedrigen Beitisch, obenauf das Porträt eines Schauspielers und die Aufschrift: »Über den Sinn des Daseins im 21. Jahrhundert«. Aber Caminchen nimmt ihr das Journal sanft aus der Hand, wirft einen Blick drauf, bevor sie es weglegt, und murmelt: Mädel, du immer mit deiner Neugier aufs »starke Geschlecht« ... hm... und der Artikel da in der Zeitung – manche Männer suchen immer nach Sinn. Uns Frauen geht’s besser: Uns ist er... hm, in den Schoß gefallen.
Für diesen leicht hingeworfenen Satz erntet Caminchen Heiterheit und Božena sagt: Wieso gefallen. In den Schoß gestoßen wurd uns der Sinn des Lebens. Geschossen!
Worauf Euline, die immer noch mit heulig geröteten Augen in ihrem Sessel halb liegt, halb sitzt, wieder ein Wörtchen von sich gibt: Wie meinst du das?
Isolde verdreht die Augen. Keine antwortet.
Božena, wie immer von Widerspruchslust geplagt, nimmt ihren Teller vom Tisch auf den Schoß und brubbelt: Und wieso suchen nur Männer? In mir blubberten früher trotzdem die Fragen nach dem »Wohin« und »Wozu« und »Weshalb«?
Ja genau, stimmt Isolde zu. Früher, jetzt hat sich’s gelegt.
Ja, in der Jugend, gibt Caminchen zu. Aber dann nach dem Kinder-Kriegen? Ist man doch gar nicht zum Fragen gekommen. Das Brüllen der Säuglinge hat Antwort gegeben, das Schürz-Zipfeln der Küken und die... hmm ja... die Verrücktheiten der Pubertätlinge , wie Božena sie immer benennt und die… Fress-Sucht der jungen Erwachsenen. Und später, als die Kleinsten oft bei mir abgeladen wurden oder die Halbstarken mit uns in den Urlaub...
Sie seufzt ein bisschen und bricht ein Stück Stolle ab. Entschuldigt, ich muss euch jetzt weiße Tassen hinstellen, sagt sie. Die fünft-letzte Meißner ist mir kaputt gegangen und ich will... Sie steht auf und tritt an die Bilderausstellung – eine mit Enkel-Porträts voll tapezierte Wand – zeigt auf ein Foto: Ich will sie diesen vier Kindern hier schenken.
Den Mädels von deiner Elise, erklärt Euline. Aber sie hätten für uns doch grad noch gereicht? mäkelt sie.
Nee, wahrscheinlich kommt heut noch jemand. Meine Nachbarin, Frau Hildegard Westphahl.
Die West-Hilda vom Feinsten?! stößt Božena etwas heiser heraus, bemüht, ihre Abneigung nicht zu zeigen.
Die mit dem Kalbshund? fragt Euline entsetzt.
Lebenssinn hatt’ ich ja auch im Beruf, nimmt Božena den Gesprächsfaden wieder auf. Und seit mein Nachwuchs da war, hab ich tatsächlich nie nach Sinn fragen müssen, der war immer und doppelt und dreifach vorhanden.
Caminchen mit vollem Mund: Ach, mehr als zehnfach.
Aber, denkt Božena laut weiter: Eigentlich müssten wir jetzt danach fragen. Denn der Beruf ist geschafft und die, hoho: die Brutpflege auch erledigt. Unsre Kinder stehn sicher im Leben, die Enkel und Urenkchen größtenteils leider weit weg, über den Globus, mindestens über Europa ver-globalisiert, ho: vergloballert. Und, aber wir, was könn wir noch tun? Unser Glucken-Dasein – beendet. Der Lebenssinn, der uns – Caminchen hat Recht – in den Schoß gepflanzt war, ist abhanden gekommen.
Die heutigen jungen Frauen, sagt Caminchen bedächtig, die sind arm dran. Hmm.... verfallen genauso der Such-Sucht wie Männer. Zum Beispiel meine Corinna, studiert und studiert. Geschnuppert hat sie zwei Jahre bei Schauspiel und Film-Kunst, dann wollt sie in London mit Medien... jetzt... aber sie kommt nicht zu Potte. Wann will sie fertig werden, sie ist über dreißig?
Kinder kriegen vielleicht mit fünfzig?! höhnt Božena.
Hm ja, wenn die Eltern Geld haben, sind sie so »frei«.
Caminchen atmet tief durch und spricht weiter: »Frei« von ihrer biologischen Pflicht. Aber kann man wider Natur glücklich sein?
Alle nicken nachdenklich, schweigen.
Und wie kommt das? empört Caminchen sich weiter. Vielleicht durch das Zuviel, hm... London, Peking und Honolulu... sie probieren, verwerfen, was andres oder ’nen andern und verlieren... hm... Jahre. Zwar... bei uns konnte auch was schiefgehn, wenn wir einen Idioten erwischt hatten, den wir irgendwann zum Tempel raushaun mussten, aber...
Dazu kann Isolde sicher das lauteste Klage-Lied singen, stimmt Božena zu. Über die Kerle, die du dir auf den Hals geholt hattest, bevor du schlau wurdest oder vielleicht endlich noch wirst. Wie auch immer, die meisten von uns alten Schachteln haben vernünftig Kinder groß gezogen und…
Genau, so isses, sagt stolz Isolde und haut sich die Faust auf die Brust. Ich sogar ganz allein. Heute ist’s doch ein Jammer, wie die jungen Frauen den Lebenssinn abschieben, Monat für Monat.
Abtreiben, nicht wahr? verbessert Euline mit wieder normaler Stimme, froh, dass sie verstanden hat. Äh, aber, wir hätten doch auch die Pille genutzt, äh... wenn wir sie damals... nicht wahr?!
Schniefen, Kauen. Kaffee-Nachschenken.
Vielleicht, sagt Božena kauend. Meine zweite Enkelin ist auch so ein tragischer Fall. Sie hat ihn vertagt, ihren
K indertraum. Ein kleines Haus am Stadtrand von Blankenburg bewohnt sie mit ihrem Mann – das sie noch abzahlen müssen und an dem sie noch viel herumwerkeln. Das Badezimmer wird in diesem Jahr fertig, hellblau gekachelt und der Zierrand in dunklerem Blau und Gold, mit Meeresjungfrauen. Die Küchenwand – nächstes Jahr – soll rosarot werden, dazwischen Kacheln mit Rafaels Engelsputtchen, schon günstig gekauft in Polen. Mitte dreißig sind sie jetzt beide. Sie verdient am meisten, aber auch er bringt ordentlich Geld nach Haus. Dass er sich ohne Studium zum Computer-Fachmann selbst qualifiziert hat, darauf sind sie sehr stolz. Für die ganze Stadtverwaltung von Halberstadt wartet er die Geräte, betreut und belehrt sie, die »Sehr geehrten Damen und Herren«, mit modernster Hardware and Software, als Spezialist ist er unentbehrlich. Ein Babyjahr zu nehmen an Stelle der Frau wäre unklug, dann hätte ein andrer den Arbeitsplatz, einer mit Hochschul-Ausbildung. Und für sie ist ein Kinderjahr völlig undenkbar, denn man schätzt sie in ihrer Firma als unverzichtbare Kraft. Sie arbeitet gern, denn sie ist Sprachtalent und hat Menschenkenntnis, das muss in den Genen liegen, vielleicht, hohoho, hat sie’s von mir. Als sie klein war, wünschte sie sich fünf Kinder, als Teenager hatt’ sie den Traum geträumt, Germanistik zu studieren. Brotlose Kunst, hieß es in Zeiten der Wende. Sie lernte bei einer Bank und nun ist sie Makler für Immobilien. Glücklich leben sie – sagen sie – mit Haus, Gärtchen und ihren drei Katzen. Sogar den Kater hat man jetzt, weil er kastriert ist, im Griff. In seiner Sturmzeit markierte er überall sein Revier, einmal bespritzte er ihre weinrot-samtene Ausgeh-Hose. Jetzt ist er sauber und friedlich: ein riesiges, dickes Baby. Sein Lieblingsplatz ist das Fußende des Ehebetts. Er als einziger darf dort den ganzen Tag faul sein. Sie wärmt sich an ihm die Füße, wenn sie am Sonntag den neuesten Bestseller verschlingt oder manchmal alte Gedichte liest. Rilke, Hölderlin, Goethe und Lasker-Schüler. Oder was ganz Modernes... ◄
Читать дальше