Frau Westphahl, ruft Caminchen hinüber, ich komme später, wir müssen ins Krankenhaus!
Natürlich, Frau Kamjenski, antwortet der Kopf, wir könn’n unser Date auch verschieben.
Euline, etwas nach vorn gebeugt, fast bucklig wirkend, die hinter der ebenfalls kleinen, aber aufrecht und gradrückigen Caminchen noch schmächtiger wirkt, neugiert zum Nachbarhaus rüber und fragt leise: Bist du oft mit der verabredet? Hast nicht Angst vor dem Köter? Betrübt und etwas ärgerlich klingt ihre Stimme.
Sie wohnt halt neben mir, in dieser Hausruine. Zugezogen aus einem Dorf bei München oder nein… Landshut, ich weiß nicht genau. Da muss man doch helfen, dass sie sich eingewöhnt hier im hinterberlin’schen Osten.
⸙
Ein Einzelzimmer im Krankenhaus. Ich sterbe… ssst… Luft… ... helft... ster… fff... Schmerz… ssst… weg… nach … fffss… Spritz… aber… ssst… die… ff… Qual des… sss… Ers… sstik… ssst… ssst… Luft… Lu... fft… ssstsch… waru… ch… die… … A… ff… Adrn …mit… Nah… r… ssst… fff... helft... s... dr... ssss... Kiss... fff... ssss… sss nur… ff… s… Lu…fffff … th…… ssts… thhhhhhhh… …Aaaaach. … Ende der Atemqual. … Bin ich tot? … Brauch keine Puste mehr. … Hab ausgehaucht. Bin nur noch... Hauch?!
Türklapp. Die dicke Schwester mit der tiefen Stimme: Ah, sie hat’s endlich geschafft! brummt sie zufrieden. Sie entfernt die Kanüle aus meinem geschwollenen Arm, unten den Schlauch mit dem Plastsack, gelb-roter Urin, halbvoll. Sie richtet meinen verkrümmten Leib in möglichst grade Liegelage, schließt mir den Mund, aufgesperrten Schnabel, wie Meta traurig gesagt hat. Du treue Tochter − eingeschlafen beim Sterbewachen. Die Schwester schickt sie nach Hause. Klebt mir Augen zu, befestigt das Kinn. Faltet Hände auf meinem Dürrbauch. Beten? Quatsch, wo ich doch Atheistin bin. War. Aber ohe! Was ist das? Körper und Seele voneinander geborsten = gestorben? Aber ich denke! Also noch bin ich. Das verblüfft sogar mich. War es kein Hirngespinst, das ich den Altweiber-Freundinnen vorfantasierte? »Seele« ist ausgehaucht. Was nun? Hölle? Himmel? Bardo? Weiberwalhalla? Oder in neues Geschöpf hineinschlüpfen? Womöglich lebe ich noch und mein Hirn schwimmt im letzten Delirium.
Da liegt der zerquälte Leib; weg, auf den Gottesacker . Acker, ha! Von dort erntet die Welten-Chefin, Mutter Natur, macht was Neues daraus. Aber mein Grips, Geist, Gemüt, Gedanke, Gefühl? Alle Wörter fangen mit -G- an. Gott?
Türklapp. Aah, mein Caminchen kommt, Abschied zu nehmen. In ihrem Schlepptau wie immer die immer seufzende Eule-Euline. Sofort werden die beiden hinausbefohlen und nun fahren sie meinen Schrumpelleib weg. In ein Laken gehüllt, die Rest-Biomasse. Adieu, meine einstigen Schmerz-Objekte! Verhärtete Bronchen, ade, kreischende Lunge, schmerzkrumme Finger, ade, und auch du, schiefes Rückgrat, auf dem ein Teufel geklimpert hat, jahrzehntelang seine Aua-Terzette. ... Werde ich nun erlöschen?
Türklapp hinter der Sterbe-Schwester. Jetzt ist ihre Seele an uns vorbeigeschwebt, schluchzt Euline. Caminchen lächelt nur traurig, schwankt ein bisschen und hält sich am Türrahmen fest, streichelt dann mit dem kleinen Finger die tränfeuchte Wange der Freundin.
⸎
Kränzchen drei Wochen später. Die Seniorinnen treffen sich heute im Hause Caminchens.
Ich beneide dich, dass du die Hellerau-Möbel noch hast aus unsern sozialistischen Zeiten, sagt Isolde. Ich hab meine zum Sperrmüll...
Wo bleibt denn unsre Euline? unterbricht Božena.
In diesem Moment klingelt es. Vom Fenster aus sind zwei Mädchen zu sehen, die Erwartete zwischen sich eingehakt. Isolde springt auf, eilt zur Gartenpforte, Božena folgt ihr. Was ist passiert?
Ich… huhu… bin üü... überfallen, schluchzt Euline. Am heller… lichten Tage… überfallen worden.
Sie ist gestürzt. Hier ist ihr Stock, erklärt eines der sehr jungen Mädchen, offensichtlich Schülerinnen, die sich dann eilig davonmachen.
Um Gottes Willen, überfallen? Am hellerlichten Tage!? Bist du verletzt? Komm erst mal rein! … Wer hat dich denn… und wieso bist du wieder ohne den Rolli? bestürmt Božena das kleine gekrümmte Frauchen. Die anderen geben ihr stumme Zeichen, dass sie ihre Neugier bezähmen soll.
Nun bricht es aus Euline heraus. Sie heult inbrünstig, laut und mit Text: Ich huhuu... habe denen doch gar nichts... geta-han, nicht wahr... ganz junge Männer... nein Kihi-inder noch... Jugendli... und mich beschi-himpft...
Sie säubern die schluchzende Freundin, setzen sie auf einen Sessel. Božena zückt ein Bleistift-Stummelchen aus ihrer Hosentasche und ein Mini-Notizheft: Das müssen wir melden, mindestens in der Schule. Euline, erzähle!
Aber die zittert, schnappt nach Luft, bringt keinen Ton raus.
Ach, Herzl Euline, ganz ruhig, tröstet Caminchen und streichelt ganz sanft die Wange der Freundin. Da, trink, hier ein Wasser. Ich bin auch schon... hm... überfallen worden. Soll ich erzählen? Wirklich, Euline? … Nachdem mein Ilja gestorben war. Die erste Zeit bin ich oftmals zum Friedhof gepilgert. Und einmal wurd ich verfolgt und...:
Ü berfallen.Ich dachte, ich hätt ihn erschlagen, ganz sicher bin ich bis heut nicht. Das war in den Jahren kurz nach der Wende, ich stand noch voll im beruflichen Leben. Manchmal taucht der Tote vor meinem inneren Auge auf: Mit Blut an der Schläfe liegt er bleich und reglos zwischen den Gräbern... Hm, also: Am Abend kam ich vom Grab meines Mannes, schlenderte durch die Trauerbeet-Reihen, ging träumend den Hauptweg entlang. Plötzlich wird mir so anders, ich merke, dass mir einer nachkommt. Ach, denk ich, nimmst mal den Seitenweg da, damit du ihn loswirst. Aber horch nur, der folgt mir. Ich beschleunige meine Schritte, er auch. Angst packt mich, denn es dämmert bereits. Er kommt immer dichter heran… hmm... irgendwann packt er mich an der Schulter. Ich – drehe mich um und haue ein Eisenbündel an seinen Kopf, meine stählerne Waffe.
Damals – mein Alltag war voller Pflichten – zu jedem Teil meines Lebens gehörte ein eherner Öffner. Gartentür, Haus. Fahrrad. Die Schlüssel der älteren Töchter von deren Wohnungen, wo ich helfend noch ein- und ausging. Ach, und ein rundes Metall-Ding, Geschenk von den Enkeln mit Aufschrift »Beste Oma der Welt«. Viele dienstliche Schlüssel. Und ja, fast vergessen: den vom Haus der Uroma in Saspow; tagsüber stand ja dort alles offen, aber abends wurde richtig verriegelt mit einem riesigen eisernen Werkzeug, wie fürs Himmelstor, spotteten meine Enkel. Und diese ganze, mit vier Ringen verkoppelte Ladung Metall donnerte ich dem Verfolger ans... Hirn. Mehr weiß ich nicht, denn ich rannte in Panik zum Hauptweg zurück und zum Bus. Erst als ich drin saß, dachte ich nach. Möglich, dass er gar nichts Böses beabsichtigt hatte, nur fantasierte, seine verstorbene Alte schwebe über die Gräber? Viele Tage erwartete ich in der Zeitung: Alter Mann erschlagen. – … Ermordet von mir.◄
Äh, nein, Caminchen, du würdest nie so zuschlagen, sind sich die Freundinnen einig, dass einer tot liegen bleibt. Wolltest jetzt nur Euline ablenken von ihrem Schrecken.
Aber ich, behauptet Isolde. Ich werd in der Wut zum Tier.
M ein »Attentäter«vergisst mich nicht. An der Kreuzung beim Bahnhof wurd ich überfallen, hehe, an der Haltestelle der Straßenbahn: Ich komme spät abends vom Sport, mein Fahrrad war grad kaputt an dem Tag. Alles autoleer, ein einziger Mensch sitzt auf ’ner Bank, und da bin ich natürlich rüber bei Rot. Plötzlich fängt der an zu krakeelen: Du olle Schachtel, kannste nich’ warten auf Grün!?
Ich werfe einen Blick auf die zerknautschte ältliche Männergestalt und sage: Sei still, du Kleener, is’ nicht dein Bier! Und geh weiter. Plötzlich – er muss ziemlich ruckartig aufgestanden sein und hinter mir her – reißt er mich rum an der Schulter, beschimpft mich unflätig. Ich lass mir das nicht gefallen natürlich, schubs ihn weg und geh weiter, aber wieder packt er mich grob. Ich boxe ihm eins vor die Nase... Gerangel. Plötzlich erscheinen zwei Männer, ansehnliche Typen mit Anzug und Schlips, die reißen uns auseinander und der eine sagt zu der Jammergestalt: Heute kannste deine Alte mal nicht verprügeln.
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