In der Ferne dämmerte es bereits. Die Sonne tauchte jetzt jeden Tag etwas früher die Dächer der Stadt in rötliches Zwielicht. Man spürte deutlich, dass der Herbst begann dem Winter zu weichen. Im Oktober wollte noch niemand so recht an die kalten und stillen Monate denken, die bald folgen sollten. Und doch riefen die ersten Vorboten der dunklen Jahreszeit eine merkwürdige Stimmung bei den Menschen hervor; So veranlasste der Anblick einer halb im Schatten, halb im Licht liegenden, sehr verlassen wirkenden Rue des Fossoyeurs einen sonst eher selten schwermütig gestimmten Leutnant der Musketiere dazu, stehen zu bleiben und zu – warten.
Worauf, das hätte niemand sagen können. D'Artagnan stand einfach nur da und betrachtete die Straße im Halbdunkel, in dem plötzlich alles blass und seltsam falsch erschien. Die Häuser rückten enger zusammen, nur eine schmale Gasse blieb frei, in der lange Schatten über alles fielen, was sich in ihr befand, während die Dächer jedoch im roten Licht leuchteten, als stünden sie in Flammen. Farben und Formen bedeckten sich und täuschten so über ihre wahre Beschaffenheit hinweg. Sie betrogen die Sinne durch ein Schauspiel natürlicher Art. Obwohl der Verstand wissen musste, dass er getäuscht wurde, verließ er sich auf die Augen, die sich bereitwillig vorgaukeln ließen, der Stein dort hinten sei ein kauerndes Tier oder die Schnitzerei da vorne über einem Eingang zeige ein fratzenhaftes Gesicht. Wie leicht ein Mensch auf ein wenig Maskerade hereinfiel, wenn er nicht um die wahre Natur einer Sache wusste!
D'Artagnan schüttelte über die eigenen Gedanken den Kopf und doch bewirkte die eigenartige Atmosphäre nun, dass der Leutnant sich auf die Stufen vor der Mansardenwohnung setzte und weiterhin grübelte. Im Hauptquartier erwartete man d'Artagnan eigentlich seit Stunden zurück. Doch dort gab es nichts zu tun, solange Monsieur de Tréville es vorzog sich in sein Kabinett ein- und alle anderen auszuschließen. Was blieb seinem Leutnant da noch für eine Aufgabe? Tréville wollte anscheinend nur die tägliche Routine erledigt wissen, ansonsten verzichtete er auf jede Unterstützung. Traute der Hauptmann seinen Untergebenen nicht zu, etwas ausrichten zu können? Wenn die Sache allein persönlicher Natur war, wurde sie nicht in dem Moment auch zur Angelegenheit der ganzen Kompanie, sobald sie den normalen Dienst beeinträchtigte?
D'Artagnan war um Monsieur de Tréville besorgt, aber auch dem Wohl des gesamten Musketierkorps verpflichtet und das schien wegen der vielen Gerüchte und Spekulationen inzwischen gefährdet. Man spottete schon in anderen Einheiten, sodass sich inzwischen selbst ein Monsieur des Essarts gezwungen sah, einzuschreiten. Diese Gerüchte kamen nicht von ungefähr und sie wären für Viele weit weniger interessant gewesen, wenn wenigstens die Personen, über die man sprach, gewusst hätten, was das alles zu bedeuten hatte. Rocheforts Auftritt war dringliche Warnung genug, der Kardinal hatte Lunte gerochen.
Fröstelnd zog d'Artagnan den Mantel fester um die Schultern. Ein frischer Wind war aufgekommen und fegte in Stößen die Straße hinunter, verfing sich in einem Dachwimpel, raschelte an einem Grasbüschel und klopfte die Fensterläden an die Wände. Die Sonne stand tief und berührte nur noch schwach die Eckhäuser, während die Schatten mit jedem Augenblick dunkler wurden.
Ein letzter Gedanke ließ sich nicht länger ignorieren: Monsieur de Tréville vertraute seinem Leutnant schlicht nicht. D'Artagnan hatte vor wenigen Stunden noch selbst bestätigt, dass Kardinal Richelieu ihn erst zum Musketier und dann zum Offizier der Einheit gemacht hatte. Wie konnte der Hauptmann über diese Tatsachen hinwegsehen und sie einfach vergessen? Und war es nicht angeblich der Vorschlag des Ersten Ministers gewesen, bei den Kompanien zu sparen, um die Staatskassen zu schonen?
Kein Verrat! D'Artagnan könnte niemals für ein Leutnantspatent den Mann hintergehen, der damals trotz mangelnden Empfehlungsschreibens dem übermütigen Gascogner geglaubt hatte, der nach dem Duell am Karmeliterkloster ein gutes Wort vorm König eingelegt hatte, der auch in der Sache mit den Diamantnadeln unterstützt hatte, obwohl es vielleicht besser gewesen wäre, blind und taub demgegenüber zu sein! Tréville hatte d'Artagnan immer protegiert und schließlich vorbehaltlos als Musketier akzeptiert. Trotzdem wollte sich ausgerechnet jetzt Misstrauen einschleichen und auch das letzte Aufeinandertreffen der beiden Offiziere hätte beinahe in einer heftigen Auseinandersetzung geendet, wäre nicht des Essarts dazwischengetreten.
Der Hauptmann der Gardisten musste über die Vorgänge der letzten Zeit ebenso in Sorge sein. Dennoch blieb er völlig gelassen und es schien so, als beunruhigten ihn angebliche Sparpläne nicht weiter. Wahrscheinlich bereitete des Essarts das auffällige Verhalten seines Schwagers weit mehr Kopfzerbrechen. Fürchtete er, dass Tréville etwas unternehmen könnte, was zur Auflösung einer Kompanie überhaupt erst berechtigen würde? Doch was konnte d'Artagnan tun? Die Antwort war einfach: Nichts. Nichts, solange Tréville seinen Leutnant nicht ins Vertrauen ziehen wollte.
Die Sonne war nun gänzlich untergegangen und die Straße in kaltes, fahles Mondlicht getaucht. Nicht mehr als Schemen und Umrisse waren noch zu erkennen und eine lebhafte Vorstellungskraft konnte in den Schatten neue Details entdecken, die dem Auge zuvor verborgen geblieben waren. Die Schnitzerei, das fratzenhafte Gesicht, gewann an Konturen; Augenbrauen, Wangenknochen, ein ausgeprägtes Kinn unter dem grinsenden Mund, der große, weiße Zähne enthüllte. Der Stein, das kauernde Tier, schien jetzt einer fauchenden Katze zu ähneln, die sich zum Sprung bereit machte. Wollte sie angreifen oder weglaufen? Wovor hatte sie Angst? Oder war sie wütend? Nein, das alles waren nur Täuschungen! Wenn man genau hinsah, so musste man erkennen, was diese Dinge eigentlich waren. Nur ein Schild und ein Stein. Es war schwer, es zu übersehen oder zu leugnen, gleich wie perfekt sie ihre neuen Rollen spielten.
'Weil es diesen Leutnant gar nicht geben dürfte!' Das hatte d'Artagnan gestern Aramis entgegengeworfen. Es waren Worte, die alles einfacher und gleichzeitig schwieriger machten. Aber es gab diesen Leutnant nun einmal und nur die eigenen Zweifel verhinderten, dass er seiner Aufgabe so nachkam wie er es eigentlich sollte. Es waren nicht die anderen, die d'Artagnan misstrauten - d'Artagnan misstraute den anderen. 'Ihr solltet es ihm sagen!' hatte Aramis verlangt. D'Artagnan begriff in diesem Moment, auf der Treppe vor der eigenen Wohnung sitzend und gedankenverloren einen Stein an der gegenüberliegenden Hauswand anstarrend, dass Aramis recht hatte. Auch Athos, auch dieser Freund musste endlich alles erfahren.
Jetzt. D'Artagnan stand sofort auf, um sich nicht doch noch anders zu entscheiden. Athos' Wohnung war nur eine Gasse weit entfernt, eine schnelle Verbindung zwischen der Rue des Fossoyeurs und der Rue Ferou. Noch nie war d'Artagnan dieser Weg so kurz vorgekommen und zugleich so endlos. Innerhalb weniger Augenblicke erreichte der Leutnant die Straße und noch einige Schritte später die Tür zu Athos' Wohnung. Der Graf musste zu Hause sein, denn aus den Fenstern fiel Licht. D'Artagnan klopfte zögerlich an. Schritte hinter der Tür bewiesen, dass man das leise Klopfen gehört hatte. Nicht Grimaud, der brave Diener, sondern Athos selbst öffnete und stellte mit einem raschen Blick fest, dass d'Artagnan allein gekommen war. Bevor ihn ganz der Mut verließ, räusperte sich der Leutnant. „Athos. Ich muss-“ Die helle Stimme einer Frau schnitt ihm mit deutlicher Empörung das Wort ab: „Nein, Monsieur! Nein!“
Vielleicht war es doch keine so gute Idee gewesen, herzukommen. D'Artagnan hatte gerade Madame Chesnay gehört, die zweifellos in Rage geraten war. Allein das war schon recht ungewöhnlich, denn Catherine war eine Frau, die sich eher selten aus der Ruhe bringen ließ. Man lernte Geduld, wenn man einen Soldaten beherbergte, der ständig in irgendwelche Scherereien verwickelt war und diese auch schon einmal mit nach Hause brachte. Dazu zählten laute Freunde, die ausgiebig lachten und tranken, laute Feinde, die zornig an die Tür pochten und zurechtgestutzt wieder abzogen, laute Ärzte, die sich über den Ungehorsam ihres Patienten beklagten und ähnliche, manchmal recht lästige Dinge. Madame Chesnay blieb immer freundlich und zeigte mit ihrer ganzen Liebenswürdigkeit, wann ein Fest, ein Streit oder ein Besuch beendet waren. Laut musste sie nicht werden, um ungebetene Gäste hinauszuwerfen oder einen allzu fröhlichen Abend zu beenden. Es genügten verschränkte Arme und ein strenger Blick. Catherine war sehr geduldig mit ihrem Mieter und resolut genug, eine unausgesprochene Hausordnung bewahrt zu wissen. Wenn sie jetzt so deutliche Worte rief, dann musste schon etwas außergewöhnliches vorgefallen sein.
Читать дальше