„Das klingt sehr philosophisch.“ lächelte Françoise nachsichtig über diese Bemerkung.
„Wenn Ihr einmal nach Paris zurückkehrt, werdet Ihr die Stadt nicht wiedererkennen.“ murmelte Bertrand ungehört und hing dann wieder seinen eigenen Gedanken nach. Wann war er selbst zuletzt in der Hauptstadt gewesen? Es musste viele Jahre her sein, zumindest erinnerte er sich in diesem Zusammenhang weniger an interessante, dafür aber an unhöfliche und laute Menschen. Ohne einen guten Freund an seiner Seite hätte es Bertrand sicher nicht zwei Tage in der Stadt ausgehalten. Vielleicht stimmte die Behauptung, dass jeder anständige Franzose wenigstens einmal die Hauptstadt besucht haben sollte. Doch dort zu wohnen, erforderte mehr als gesunden Patriotismus. Dazu war auch eine gehörige Portion Abenteuerlust von Nöten, die Bertrand vor langer Zeit schon abgelegt hatte, um bei seiner Familie in der Gascogne zu sein. Jetzt war wieder ein d'Artagnan in Paris - oder genauer: Jemand, dieses Namens.
„Ach, mit der Philosophie halte ich es nicht so.“ gab d'Orfeuille verträumt zurück. „Sie ist doch eine sehr unsichere Sache und jeder kluge Kopf wird die Erkenntnisse seines Vorgängers widerlegen wollen. Meine Welt sind mehr die Zahlen und Fakten. Aus diesem Grund muss ich sehr genau beobachten.“
Françoise runzelte leicht die Stirn. „Ob ihr einem Menschen trauen könnt, oder nicht?“
„Natürlich, niemand schließt ein Geschäft mit einem Heuchler ab. Noch schlimmer sind da allerdings die Idealisten, die Furchtlosen oder die Verzweifelten. Sie alle haben gemeinsam, dass sie die Risiken gerne unterschätzen und die Situation nicht ausreichend bewerten können. Nehmt ein Beispiel:“
Allen Menschen konnte ein Fehler unterlaufen. Selbst der umsichtigste Zeitgenosse sah sich manchmal in einer Lage wieder, die er so niemals erwartet hätte. Bertrand zweifelte nicht daran, dass vor jeder Entscheidung gute Gründe standen, auch, wenn diese nicht immer offensichtlich oder verständlich schienen. Jean d'Orfeuille für seinen Teil hatte nach dem Tod seines Vaters beschlossen, die bis dahin eher flüchtigen Bekanntschaften mit seinen Nachbarn zu vertiefen und besonders Schloss Castelmore hatte er oft besucht. Dies war d'Orfeuilles Entscheidung gewesen und Bertrand hatte sie akzeptiert. Doch anscheinend war... die Situation nicht ausreichend bewertet worden.
„Ein Karren, beladen mit - nun, sagen wir Eisenerz - muss, um zum Hüttenwerk zu gelangen, zunächst über eine vom Regen und vielen Fuhrwerken aufgeweichte Straße fahren. Was könnte geschehen?“
„Ich nehme an, der Karren könnte stecken bleiben.“ gab Madame d'Artagnan ohne Zögern zurück.
Von einem Tag auf den anderen hatte sich erneut alles geändert. Bertrand fand sich plötzlich in einer Meinungsverschiedenheit mit dem jungen d'Orfeuille wieder und hätte ihn für immer seiner Tür verwiesen, wenn nicht Françoise schlichtend eingriffen hätte. Trotzdem hatte Bertrand dem jungen Mann nicht gänzlich verzeihen können und sein höflicher Besuch heute konnte nicht die Ereignisse der Vergangenheit ungeschehen machen. Doch diesen Gedanken aus der Erinnerung zu rufen und ihn hin und her zu wälzen, war nur müßig. Wer, zum Teufel, war dieser Leutnant?!
„Das wäre ein Risiko.“ nickte der Gast. „Der weitere Weg führt einen Abhang hinunter, über eine Landstraße, deren Schlaglöcher schon lange nicht mehr mit Steinen aufgefüllt wurden.“
„Möglicherweise wird der Fuhrmann die Kontrolle über den Karren verlieren, er könnte schleudern und umfallen.“ antwortete Françoise brav.
„Sehr richtig, Madame! Aber diese zweite Gefahr ist noch nicht alles. Das Hüttenwerk liegt hinter einem kleinen Wäldchen und an diesem führt kein Weg vorbei, der Karren muss wohl oder übel in die dicht gedrängten Bäume eintauchen, ohne zu wissen, was darinnen wartet.“
„Räuber?“
D'Orfeuille senkte die Stimme zu einem Flüstern. „Vielleicht? Der Begleitschutz ist unentschlossen: Soll er für eine handvoll Münzen sein Leben riskieren? Verlässt er feige den Transport, sodass der Karren schutzlos auf sich allein gestellt ist?“
D'Orfeuille hatte für ein Jahr die Gascogne verlassen und war wohlhabend zurückgekehrt. Er begrüßte seinen Nachbarn überschwänglich und herzlich. Er konnte es sich leisten, denn in Paris hatte er als Weinhändler sein Glück gemacht. Der ohnehin schon selbstbewusste junge Mann, der in die Hauptstadt auszog, war stolz geworden und unterschied sich auf einmal sehr deutlich von den Provinzlern in seiner Heimat. Bertrand fragte sich, ob die Stadt jeden Menschen so nachhaltig verändern konnte.
Françoise hob verwundert eine Hand zum Haar und tastete nach einer widerspenstigen Strähne, die ihr aus dem Zopf über die Stirn gefallen war. Sie strich sich die Locke gedankenverloren hinters Ohr, eine Geste, die meist eine größere Wirkung auf ihren Gegenüber als jedes Wort haben konnte. Auch d'Orfeuille lernte das gerade. „Aber Monsieur! Eisenerz, nicht mehr als einige Steinklumpen also, sollten tatsächlich kostbarer sein als das Leben des Fuhrmanns und seiner Eskorte?“
„Aus Eisenerz lassen sich jedoch Dinge herstellen, die anderer Leute Leben retten können.“ gab d'Orfeuille nach einem kurzen Moment der Überlegung zu bedenken. „Wie sollen Soldaten das Volk verteidigen, wenn sie keine Waffen zur Verfügung haben?“
Bertrand konnte seiner Frau ansehen, dass sie mit dieser Antwort nicht zufrieden war. Im Stillen musste er Françoise zustimmen. Durch Waffen wurde nur mehr Blut vergossen und das Argument konnte schwächer nicht sein. Trotzdem schwieg Madame d'Artagnan und wartete, worauf ihr Gast eigentlich hinauswollte. D'Orfeuille fuhr auch gleich fort: „Dies sollen nur drei Dinge sein, die dem Karren auf seinem Weg widerfahren könnten. Jetzt nehmen wir an, wir wollten mit Eisenerz spekulieren. Würdet Ihr eben jenen Transport unterstützen, der nicht unerheblichen Risiken ausgesetzt ist, bevor er sein Ziel erreicht?“
„Sicher nicht.“
„Seht Ihr?“ D'Orfeuille lächelte triumphierend. „Aber was ist nun mit dem Idealisten, dem Furchtlosen, dem Verzweifelten? Nun, der Idealist wird glauben, dass alles gut gehen wird, weil er dem Können des Fuhrmanns vertraut. Der Furchtlose wird auf die Tapferkeit der Eskorte setzen und dem Verzweifelten bleibt gar keine andere Wahl, als dieses Geschäft abzuschließen. Bei einem Heuchler kann man sich zumindest sicher sein, dass er sehr wohl von den Risiken weiß und sie für seine Zwecke ausnutzen wird. Die Anderen jedoch sind so sehr überzeugt, dass sie diese Gefahren schlicht übersehen, nicht Ernst nehmen oder ohnehin schon aufgegeben haben.“
Übersehen, nicht Ernst genommen und aufgegeben - keine Aufzählung wäre treffender gewesen, pflichtete Bertrand bedrückt zu. Trotzdem gab es immer wieder einige wenige Mutige, die bereit waren, ein Risiko einzugehen, sich dem Fremden zu stellen und ein Abenteuer mit ungewissem Ausgang zu wagen, wenn sie eine noch weitaus unangenehmere Alternative dazu zwang.
Bertrand wünschte in diesem Augenblick nur, dass alle Geschichten über solche Helden schließlich ein gutes Ende fanden.
D'Artagnan war nicht zum Hôtel de Tréville zurückgekehrt. Die unverhoffte Begegnung mit dem Stallmeister Seiner Eminenz und dessen scheinbar freimütig daher gesagten Abschiedsworte, ihn im Auge zu behalten, hatten den ohnehin schon gereizten Leutnant nicht gerade beruhigen können. Ohne noch ein überflüssiges Wort an Rochefort zu verschwenden, war d'Artagnan die Rue Tiquetonne hinunter gestapft, einige Male in verschiedene Richtungen abgebogen und dabei bestimmt mehrmals wieder in derselben Straße gelandet. Schließlich hatte d'Artagnan, mehr oder weniger zufällig und durch den langen Spaziergang im Mütchen abgekühlt, wieder die Rue des Fossoyeurs erreicht.
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