Dieser Gedanke führte nun doch zu weit, ermahnte sich d'Artagnan und blieb stehen. Die Füße hatten den Leutnant in keine sehr belebte Gegend getragen, in eine namenlose Gasse mit krummen Häusern und schlammigem Straßengrund, fernab der beliebten Plätze und Alleen. Eine Straße für die einfachen Bürger und Tagelöhner von Paris, für die Kinder von Marktweibern und Handwerksgesellen. D'Artagnan versuchte sich zu orientieren, aber sogar der Geruch war hier anders. Es wehte kein modriger Wind von der Seine herüber, stattdessen roch es nach Markt und Handwerk. Nach Brot, Äpfeln und Feuerstätten, nach Pferdemist, Stroh und Unrat. Es roch nach Dorf und d'Artagnan gestand sich ein, nie zuvor hier gewesen zu sein.
„Verlaufen?“
D'Artagnan fuhr herum, eine Hand bereits am Griff des Degens. Die Klinge blieb allerdings in ihrer Scheide, als der Musketier erkannte, wer ihn da vom Halbdunkel eines Hauseingangs heraus angesprochen hatte. „Seit wann folgt Ihr mir?“ Die Worte hätten leicht drohend klingen sollen, doch selbst in d'Artagnans eigenen Ohren schwang in ihnen nur ein Hauch von Ungeduld mit. Das schien auch dem Mann im Schatten aufzufallen und amüsiert antwortete er: „Ich, Euch folgen? Monsieur, ich fürchte Ihr überschätzt Euch und Eure Wichtigkeit.“
„Warum seid Ihr dann hier, Rochefort?“
Der Stallmeister Seiner Eminenz trat auf die Straße und deutete mit einer Hand nach oben, auf ein altes, vom Rost fast zur Unleserlichkeit zerfressenes Schild, das an einer Eisenstange über dem Hauseingang befestigt war. „Wurst. Es gibt nirgendwo in der Stadt einen besseren Metzger, bei dem man noch dazu sicher sein kann, auch wirklich Fleisch verkauft zu bekommen.“ In der anderen Hand hielt Rochefort ein fest verschnürtes Päckchen, dessen Inhalt in der Sonne leicht verderben konnte. „Nun bin ich an der Reihe eine Frage zu stellen.“
D'Artagnan verspürte wenig Lust zu einer Unterhaltung mit dem ehemaligen Erzfeind, doch Rochefort schien die Wahrheit gesagt zu haben. Zumindest was den Metzger betraf. Außerdem wusste er anscheinend genau, wo er sich befand und ob es dem Musketier nun gefiel oder nicht: Rochefort kannte auch den Weg zurück auf die Hauptstraße. „Fragt!“
„Warum seid Ihr hier, d'Artagnan?“
Der Leutnant zögerte. Vor nicht allzu langer Zeit wäre jede Begegnung mit Rochefort zu einer Verabredung zum Duell geworden. Nachdem der Kardinal ihnen Freundschaft befohlen hatte, herrschte zwischen den einstigen Kontrahenten eine brüchige Waffenruhe, die nicht an wachsamen Misstrauen fehlen ließ. Doch für den Moment hatte d'Artagnan andere Sorgen als einen ganz zufällig durch die gleiche Gasse spazierenden Rochefort und darum bekam der Stallmeister zu hören: „Wurst?“
Rochefort lächelte dünn. „So? Dann will ich Euch nicht weiter bei Euren Einkäufen aufhalten. Adieu.“
Der Graf kam drei Schritte weit, als ihn ein „Wartet!“ noch einmal aufhielt. Sein Lächeln wuchs in die Breite, ohne je seine Augen zu erreichen und es verschwand, bevor er sich umwandte. „Ja?“
D'Artagnan war durchschaut. Doch Stolz konnte manchmal sehr hinderlich sein und auch jetzt wollte er der Vernunft nicht recht weichen. „Nein, nichts. Adieu.“
Rochefort hob nur nachdenklich die Hand zum Kinn, während er nun seinerseits den Leutnant zurückhielt, als der sich schon in die entgegengesetzte Richtung wenden wollte. „Ich würde diesen Weg hier vorschlagen. Es ist eine Abkürzung.“
„Seid Ihr sicher?“ D'Artagnan ging dankbar auf das Spiel ein und blickte zweifelnd an Rochefort vorbei die Gasse hinunter, die sich irgendwo im pariser Straßengewirr verlor.
„Vollkommen sicher.“ Rochefort ging, wissend, dass ihm d'Artagnan folgen würde, und meinte: „Ich begleite Euch ein Stück, ich muss selbst in die Nähe der Rue des Fossoyeurs.“
„Woher wollt Ihr wissen, dass ich auf dem Weg nach Hause war?“ fragte d'Artagnan argwöhnisch und schloss zum Stallmeister auf. „Mein Dienst ist noch nicht beendet.“
„Ich weiß. Ihr seid beinahe jeden Tag der Erste, der das Hauptquartier betritt und der Letzte, der es verlässt.“ Es klang, als würde Rochefort aus einem Bericht zitieren. Wahrscheinlich war es auch so, die Agenten schliefen nie. „Nennt es eine Eingebung, dass ich dachte, Ihr wolltet heute nicht mehr in die Rue du Vieux-Colombier zurückkehren, da Ihr Euch auf einer Straße weit vom Hôtel de Tréville entfernt befindet.“ Aus den Augenwinkel beobachtete der Stallmeister die kaum merkliche Veränderung im Gesicht seines Begleiters - und war sehr zufrieden. Menschenkenntnis hin oder her: Auch ein Kardinal Richelieu konnte sich irren und wenn es sich dabei nur um eine solche Kleinigkeit handelte wie einen Leutnant, der so eben bemüht war, seinen Verdruss hinter einer ausdruckslosen Maske zu verbergen und zurückgab: „Ihr seid ziemlich gut über meinen Dienstplan informiert, Monsieur. Wollt Ihr immer noch leugnen, mir gefolgt zu sein?“
„Es ist nicht nötig, Euch zu folgen. Man hört das ein oder andere.“
D'Artagnan schnaubte missmutig. „Interessant. Das sagt man mir in letzter Zeit oft. Ich wüsste nur zu gerne, was man da hört. Wartet, lasst mich raten:“ Der Musketierleutnant verfiel in einen strammen Schritt und fuhr beinahe fröhlich fort: „Der König, beeinflusst durch die Politik seines Ersten Ministers, hat die Notwendigkeit erkannt, dass zur Entlastung der durch den Krieg um La Rochelle außerordentlich strapazierten Staatskassen Einsparungen bei der Armee vorgenommen werden müssen. Dazu zählt auch seine Leibgarde, die ohne Zweifel nur dem Ansehen Seiner Majestät dient und in den Straßen von Paris durch ihre Streitlust schon zu oft Ärger verursacht hat. Der Hauptmann eben jener Eliteeinheit ist von diesen Plänen alles andere als begeistert, doch weiß nichts anderes zu unternehmen, als sich in seinem Arbeitszimmer einzuschließen, wo er ein finsteres Vorhaben nach dem anderen gegen den Kardinal schmiedet.“
Rochefort hatte amüsiert zugehört. „Was ist mit Euch?“
„Mit mir? Natürlich, der verräterische Leutnant! Man sieht ihn in diesen Tag oft in Begleitung des Stallmeisters Seiner Eminenz. Hat Herr d'Artagnan das Leutnantspatent nicht dem Kardinal zu verdanken? Augenblick, auch seine Versetzung von der Garde des Königs zu den Musketieren ein Jahr zuvor geschah auf Anweisung Richelieus! Er hat Seiner Eminenz viel zu verdanken. So fügt sich alles zusammen: Hauptmann de Tréville misstraut ihm. Die Musketiere sind verwirrt und ratlos, die Kompanie: Ein heilloses Durcheinander.“ D'Artagnan mied den Blick des Stallmeisters, der aufmerksam zugehört hatte. „Habe ich etwas vergessen?“
„Ihr habt sehr anschaulich beschrieben, welche Gerüchte derzeit die Runde machen. Wie viel Wahres mögen sie wohl enthalten?“ Mittlerweile hatten sie eine gepflasterte Straße erreicht, die diese Bezeichnung auch verdiente. D'Artagnan bemerkte im Vorübergehen, dass es sich um die Rue Tiquetonne handelte. Sie waren nur noch drei Querstraßen vom Louvre und vom Palais Cardinal entfernt, wieder auf vertrautem Terrain. „Das wisst Ihr wahrscheinlich besser als ich, Rochefort.“
„Ich weiß, was ich wissen muss. Schenkt Ihr den Gerüchten denn Glauben?“
D'Artagnan blieb abrupt stehen. „Was wollt Ihr damit sagen?“
Rochefort erkannte einen günstigen Zeitpunkt, wenn er vor ihm lag und seine Miene spiegelte nichts anderes als großen Ernst wieder, als er wiederholte: „Schenkt Ihr den Gerüchten Glauben?“
Der Leutnant blinzelte verwirrt. „Natürlich nicht!“
„Wirklich nicht?“
„Ja!“ Was sollte diese Frage? Gerüchte blieben Gerüchte, selten enthielten sie auch nur einen Funken Wahrheit, wenn sie erst durch hunderte Münder gegangen waren. Das einzig Glaubhafte daran war noch die leere Staatskasse. Andererseits, irgendwie musste das Geld wieder beschafft werden und die Armee zu unterhalten war eine kostspielige Angelegenheit. Aber das betraf nicht auch die Kompanie der Musketiere! Oder? Monsieur de Tréville war über irgendetwas so besorgt, dass er sich auffällig zurückzog. Aber Pläne schmieden? Unsinn! Das hätte auch bedeutet, d'Artagnan selbst wäre bezahlt von Seiner Eminenz und dies war, hier gab es keinen Zweifel, tatsächlich eine Lüge. „Ja, wirklich nicht!“
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