D'Artagnan musste sich sehr beherrschen, um nicht ungeduldig mit einem Fuß zu wippen, während Moissac mit seinem üblichen, strahlenden Lächeln im knabenhaften Gesicht näher schlenderte. Der Gardist hätte auch schneller gehen können und dabei weitaus zielstrebiger gewirkt. So aber schien es, als wolle Moissac besonders gelassen auftreten und es kümmerte ihn wohl reichlich wenig, dass es der Leutnant eilig hatte. Mit ein paar entschlossenen Schritten verkürzte d'Artagnan die Distanz zwischen sich und Moissac, schnitt dem jungen Gardisten mit einer knappen Geste das Wort ab, noch bevor dieser überhaupt den Mund geöffnet hatte, und teilt ihm mit: „Hauptmann des Essarts erwartet Euch nach dem Wachdienst in seinem Arbeitszimmer.“
An dem erstarrten Lächeln im Gesicht seines Gegenübers erkannte d'Artagnan schnell, vielleicht zu barsch mit Moissac gewesen zu sein. Statt nun auf dem Absatz kehrtzumachen, wie es der Leutnant eigentlich vorgehabt hatte, räusperte er sich und fügte hinzu: „Essarts war sehr daran gelegen, dass Euch diese Nachricht rasch erreicht.“
Dieser Satz, halb Lüge, halb Entschuldigung, schien Moissac seine Fassung wiedergewinnen zu lassen. „Ah, es handelt sich wohl um eine wichtige Angelegenheit.“
D'Artagnan, eben noch mit einem nagenden Gewissen belastet, bedauerte es sofort, nicht der ersten Rührung gefolgt und gleich nach dem Ausrichten der Nachricht wieder gegangen zu sein. Doch Moissac ließ dem Musketier nun keine Gelegenheit mehr, zu entkommen, denn er fuhr in verschwörerischem Tonfall fort: „Wichtig genug, um Euch senden.“
„Wichtig genug, um jemanden, der ohnehin auf dem Weg hierher war und den der Hauptmann zufällig traf, zu senden.“ Diese Ausrede hatte schon im Hauptquartier der Musketiere lästige Folgen für d'Artagnan mit sich gebracht und auch vor Moissac bewährte sie sich nicht, der nun anmerkte: „Ich verstehe. Immer im Dienst, nicht wahr? Wie auch gestern Abend.“
D'Artagnan maß Moissac mit einem abschätzenden Blick, doch aus der offenen Miene des Gardisten sprach keine Arglist oder der Wunsch, den Streit vom 'Tannenzapfen' hier fortzuführen. Also antwortete der Musketier schlicht: „Ja.“ und hielt das Gespräch damit für beendet. Moissac hingegen schien, ganz gegen seine pflichterfüllte Gewohnheit, noch plaudern zu wollen. „Meine Wache dauert noch zwei Stunden. Ich werde sofort aufbrechen müssen, sobald meine Ablösung eintrifft. Nebenbei, ich ahne schon, worüber der Hauptmann mit mir sprechen möchte.“
„So?“ Es war sicher nicht leicht, das offensichtliche Desinteresse in diesem Wort zu überhören, Moissac gelang dieses Kunststück dennoch mit Bravour. „Ja, ja. Es handelt sich wahrscheinlich um den kleinen Gefallen, um den ich bat.“ Wenn der Gardist gehofft hatte bei d'Artagnan Eindruck dadurch schinden zu können, dass des Essarts seinem jungen Untergeben einen Gefallen erweisen wollte, so irrte er sich. Vielmehr suchte der Leutnant gerade fieberhaft nach einer passenden Antwort, um weiteren Ausführungen zu entgehen und sich verabschieden zu können. Allerdings dauerte das Schweigen wohl einen Augenblick zu lange, was Moissac als Aufforderung nahm, mehr zu erzählen. „Seht Ihr, ich habe eine Cousine, drüben in Saint-Denis. Das arme Kind hat kein sehr großes Auskommen und hofft, hier in Paris eine Stelle als Gesellschafterin zu finden. Ich habe ihr Hilfe versprochen. Ich erklärte dem Hauptmann ihre Situation und es scheint, als hätte er tatsächlich eine Familie gefunden, die meine Verwandte aufnehmen will.“
D'Artagnan hörte nur mit halben Ohr zu und suchte die Umgebung unauffällig nach einem ersichtlichen Grund zu verschwinden ab. Bis auf die beiden Gardisten weiter hinten war aber nicht zu entdecken. D'Artagnan nickte geistesabwesend, als Moissac nicht mehr weitersprach und meinte: „Das ist... interessant.“
„Ja, eine gute Gelegenheit.“ D'Artagnans Blick heftete sich wieder auf Moissac, als dieser allzu vertraulich eine Hand auf den Arm des Musketiers legte und fortfuhr: „Wenn es dem Hauptmann gelungen ist eine freie Stelle für eine junge Dame zu finden, so ist es sicher auch ein zweites Mal möglich.“
D'Artagnan trat einen Schritt zurück und damit weg von Moissac, dessen Nähe mit seiner einfachen Geste sehr unangenehm geworden war. „Danke, aber ich glaube nicht, dass ich eine junge Frau kenne, die Gesellschafterin werden möchte.“
„Tatsächlich nicht?“ Wieder zeigte sich auf dem Gesicht des jungen Soldaten nur dieses offenherzige, leicht naive Lächeln, das scheinbar keine Hintergedanken oder Doppeldeutigkeiten barg. „Vielleicht wollt Ihr das Angebot zu einem anderen Zeitpunkt annehmen. Ich denke an meine Freunde.“
Mit Mühe unterdrückte d'Artagnan ein Seufzen. Wie man es auch drehte und wendete: Moissac wollte nützlich sein und um jeden Preis die Sympathie des Musketierleutnants gewinnen. Doch seine ganze Art war d'Artagnan einfach zuwider. „Hört einmal.“ begann d'Artagnan behutsam, als wäre Moissac ein besonders begriffsstutziges Kind. „Ich weiß Eure Freundlichkeit zu schätzen.“ Der Gardist hörte ruhig zu und das Lächeln schwand nicht von seinen Lippen. Es wirkte glaubhaft ehrlich. Ihn umgab eine gewisse Unschuld, die es schwer machte, ihm allein eigennützige Absichten zu unterstellen. D'Artagnan blinzelte verwirrt. „Aber ich denke, ich sollte auch etwas für Euch tun.“ beendete der Musketier den begonnenen Satz und hätte sich gleich darauf am liebsten auf die Zunge gebissen.
Moissac seinerseits schien begeistert, aber gab sich bescheiden. „Eine Hand wäscht die andere, meint Ihr? Nein, nein, ich biete Euch lediglich einen kleinen Freundschaftsdienst an, Ihr müsst deswegen nichts für mich leisten.“
„Gibt es denn etwas, das ich für Euch erledigen könnte, sagen wir, rein theoretisch?“ Es war nicht mehr als eine Höflichkeitsfloskel. Alles andere hätte d'Artagnan vor sich selbst nicht rechtfertigen können, ohne sich vielleicht doch eingestehen zu müssen, dass Moissac den Leutnant, auf welche Weise auch immer, überlistet hatte.
Moissac erwies sich als großzügig. „Auch theoretisch gibt es nichts, was ich derzeit von Euch verlangen könnte.“
„Gut.“ Erleichtert atmete d'Artagnan auf und wusste gleichzeitig, dass Moissac bereits ein große Gefallen getan war: Der Musketier war nun ein Schuldner und irgendwann würde der Gläubiger kommen, um die Schulden einzutreiben. Bis dahin konnte allerdings noch viel geschehen und d'Artagnan beschloss, im Augenblick keinen weiteren Gedanken daran zu verschwenden. „So gerne ich mich noch weiter mit Euch unterhalten würde, der Dienst ruft.“
Moissac neigte verständnisvoll den Kopf und d'Artagnan ließ ihm keine Zeit für lange Abschiedsworte. Mit einem knappen Nicken grüßte der Musketier und ging. Zornig über sich selbst und ebenso wütend auf Moissac, kehrte d'Artagnan dem Louvre den Rücken zu - ohne die wachhabenden Musketiere kontrolliert zu haben, wie ein einzelner Mann am Rande des Vorplatzes bemerkte.
*~*~*~*~*
Ohne sonderlich auf die Umgebung zu achten, stapfte d'Artagnan die Straßen von Paris hinunter, noch immer mit sich selbst hadernd. Nicht nur, dass das Vertrauen der Freunde, mit Monsieur de Tréville zu reden, enttäuscht worden war und d'Artagnan stattdessen erneut den Ärger des Hauptmanns auf sich gezogen hatte. Nein, darüber hinaus schuldete der Leutnant nun auch noch Moissac, der aufdringlicher denn je wurde, einen Gefallen welcher Art auch immer. Dieser Dienstag hatte bislang nicht viel Gutes bereitgehalten - und der Tag war noch lange nicht vorbei. Vielleicht war es angeraten jetzt nach Hause zu gehen, sich krank zu melden und vor Morgen das Bett nicht mehr zu verlassen. Ob es Tréville aufgefallen wäre, wenn sein lästiger Leutnant heute einfach nicht mehr zum Dienst erschien? Wahrscheinlich nicht. Allerdings würden sich die übrigen Aufgaben - die Soldabrechnung oder die Wachliste, um nur zwei Beispiele zu nennen - nicht von allein erledigen. Wenn der Berichtstapel auf dem Tisch des Hauptmanns wuchs, der Stapel, um den sich der zweite Offizier bislang gekümmert hatte, dann musste d'Artagnans Abwesenheit wohl auffallen. Bis dahin konnten ein paar Tage vergehen, vielleicht sogar eine ganze Woche. Mit einem guten Pferd konnte man in dieser Zeit immerhin bis- Halt!
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