»Das wird so sein, wie du sagst«, war auch Georg Mohrs Meinung, »ohne Karte können wir nicht planen und entscheiden.«
»Wir müssen uns aber entscheiden, Georg. Ohne genau überdachte Zwischenzielsetzungen ist unsere Überlebenschance geringerer. Fehler und Unaufmerksamkeiten können wir nie ausschließen. Erfahrungen sammelten wir ja bereits. Mir kommt da in den Sinn, falls du nicht eine andere, vielleicht eine bessere Möglichkeit siehst, dass wir uns Griechenland als Ziel setzen sollten. Griechenland grenzt an Bulgarien. Die Griechen sind Deutschland spinnefeind. Ich meine, wenn wir uns dort sofort als Nazi-Gegner und ehemalige KZ-Insassen zu erkennen geben, dann glaube ich nicht, dass die uns feindselig behandeln würden. Also, Georg, Griechenland wäre, wenn wir Rumänien und Bulgarien denn schafften, bestimmt das nächstmögliche Ziel. Wie die Situation in Bulgarien ist, wie es an den Grenzen zugeht und welche Rolle die Deutschen spielen, das wissen wir natürlich nicht, wir wissen nur, dass es uns an den Kragen geht, wenn wir geschnappt werden. Glaubhaft herausreden, das können wir uns nicht mehr.«
Das war bislang Hassos längste Einschätzung ihrer Situation. Georg hatte nur aufmerksam zuhören können. Hasso war für ihn der Wegweiser, der Hoffnungsträger. Also erst einmal Rumänien ins Auge fassen.
Dieses Mal fanden sie nicht so rasch einen Zug. Tag um Tag verging. Die Tage wurden kürzer, dunkler und kälter. Ende November wurde endlich ein Zug, je zur Hälfte mit Personen- und Güterwaggons, zusammengestellt. Das Wort Braila wurde von Bahnarbeitern mit Kreide an die Wagenwände geschrieben. Warum von hier aus, dem Sowjetland, ein Zug in ein mit Deutschland verbündetes Land eingesetzt wurde, war natürlich nicht ungewöhnlich. Welche Menschen und welches Material der Zug transportieren werde, darüber machten sich die beiden Flüchtigen keine Gedanken.
Bis zum frühen Morgen mussten Hasso und Georg noch warten, bis sie ihren Zug besetzen konnten. Es war ein Zug mit nicht mehr als sechs geschlossenen Güterwaggons. Was sie verbargen, was sie transportieren sollten, war nicht zu erkennen. Hasso und Georg hatten sich von der Bahnhofshalle aus einem Trupp von Arbeitern, die Schaufeln, Spitzhacken und eine Art Brotbeutel mit sich trugen, angeschlossen. Sie hielten einige Schritte Abstand zu den vor ihnen Gehenden, um von ihnen nicht angesprochen zu werden. Der Trupp aber verhielt sich schweigsam, kein Wort wurde untereinander gewechselt. Die Männer waren vermutlich einheimische Häftlinge. Hasso und Georg vermittelten den Eindruck, als gehörten sie zu ihnen. Angeführt wurden die Arbeiter von zwei Männern, die weiße Oberarmbinden trugen, auf die ein Buchstabe gedruckt war. Noch ein paar Schritte, und die beiden Männer entriegelten am vorletzten Waggon die Schiebetür und schoben sie zur Seite, woraufhin sich die Arbeiter ins Innere des Waggons hangelten. Als die Tür wieder zugeschoben wurde, saßen Hasso und Georg bereits im hinteren Bremserhäuschen des letzten Waggons. Die beiden Männer mit den hellen Oberarmbinden waren nach dem Verschließen des Waggons in Richtung Zuganfang gegangen. Auf dieser Seite des Bahnsteigs hielten sich, allerdings in großen Abständen, nur wenige Menschen auf. Deutsche Uniformen bekamen die beiden Fahnenflüchtigen in diesen Minuten nicht zu Gesicht. Sie hofften, dass dieser Zug tatsächlich nach Braila fuhr, Braila in Rumänien, nicht allzu weit entfernt von der Sowjetgrenze, deren Übergänge nun nicht mehr von den Sowjets bewacht und kontrolliert wurden. Sollten Hasso und Georg es schaffen, von Braila aus die rumänisch-bulgarische Grenze zu überwinden, dann war bis zur bulgarisch-griechischen Grenze nur noch ein verhältnismäßig kurzes Stück zurückzulegen. Doch was war ein kurzes Stück? … Die Lage der Länder hatten sie in ihrer Schulzeit gelernt und noch ziemlich klar im Kopf, nicht aber die für sie demnächst zu bewältigenden Entfernungen. Nun hockten sie in ihrem Versteck und dachten über diese Dinge nach, aber auch darüber, dass sie sich in ihrem Rangierhäuschen ganz und gar nicht sicher sein konnten. Irgendwelche Personen, ob militärische oder für die Bahn arbeitende, könnten sie überraschen, was dann möglicherweise wiederum das Ende ihrer Flucht bedeutete. Sie kannten das ja schon, sahen aber keine Alternative zum Bahn-fahren. Zu Fuß sich unerkannt durchzuschlagen, das könnten oder müssten sie ohnehin, nämlich dann, wenn sie Österreich oder Deutschland erreichen würden. Am besten wäre es, sagten sie sich oft, in die Schweiz zu gelangen, was aber aufgrund der dortigen Grenzüberwachungen unmöglich sei. Georg Mohr hatte es erfahren.
Stunde um Stunde rumpelte der Zug ohne Halt Richtung rumänische Grenze. Den beiden Flüchtlingen war kalt, und sie standen immer öfter auf, ihre Beine massierend und auf der Stelle tretend zu beleben.
An der Grenze zu Rumänien hielt der Zug zum ersten Mal, was in Hasso und Georg sofort die Angst zurückkehren ließ. Nach etwa zwei Stunden – in dieser Zeit wurden die Waggons entladen, was gehörigen Spektakel verursachte ‒ ruckte der Zug wieder an und setzte seine Fahrt fort. Zwei Stunden in hockender Stellung, gequält von der Angst, entdeckt zu werden, empfanden sie als eine Folterung. Erst dann, als der Zug wieder Fahrt aufgenommen hatte, wagten sie sich auf die Füße, wobei sie sich mangels versagender Kraft gegenseitig aufstützen mussten. Die abnormale Haltung hatte die Muskeln, Sehnen und Blutgefäße ihrer Beine bis über die Schmerzgrenze hinaus strapaziert.
Endstation Braila an der Donau. Inzwischen war es dunkel geworden, und es regnete leicht. Eine fremde Stadt, Dunkelheit, Regen, kühle Temperaturen: Verhältnisse, die die Stimmung der beiden sich auf der Flucht Befindlichen tief hatte sinken lassen. Sie hatten sich gewünscht, der Zug legte noch viele Kilometer in Rumänien zurück, Kilometer für Kilometer näher an die bulgarische Grenze heran. Der Hunger setzte ihnen gewaltig zu. Hin und wieder nahmen sie einen Schluck Wasser aus ihrer Feldflasche. Dass sie sich bis jetzt noch keine fiebrige Erkältung eingefangen hatten, verdankten sie wahrscheinlich ihrer Jugend. Aber eine echte Grippeerkrankung, mit hohem Fieber, würden sie sicherlich nicht überleben.
Aus ihrem Versteck gestiegen, nachdem sie glaubten, augenblicklich keiner Gefahr ausgesetzt zu sein, sahen sie in der Bahnhofshalle rumänische und deutsche Soldaten wie in Wartestellung. Eine dreiköpfige Streife von Kettenhunden schien alles im Blick zu haben. Hier sich länger aufzuhalten, um nach einem weiteren Zug, den sie hätten benutzen können, Ausschau zu halten, empfanden sie dieses Mal als gefährliches Warten.
Also verließen sie den Bahnhofsbereich mit Ziel ins Ungewisse. Das war nicht neu für sie, denn ihre Wege führten bislang ständig ins Ungewisse. Sie bewegten sich nicht hektisch durch die regennasse Stadt, sie wollten den Eindruck erwecken, falls jemand auf sie neugierig zu sein schien, Gleiche unter Gleichen zu sein. Rumänisches oder deutsches Militär war hier zu dieser Stunde nicht unterwegs. Nach einer Weile des Marschierens vermuteten sie, dem Stadtrand nahegekommen zu sein. Die jetzt von ihnen benutzte Straße war breit, aber ungepflastert und dementsprechend vom Regen schmierig. Die ziemlich weit voneinander stehenden Häuser inmitten mit Holzlatten eingezäunter, ungepflegter Grundstücke erinnerten an russische Dörfer. Hasso und Georg waren ratlos, es schien, als seien die Häuser von ihren Bewohnern verlassen worden. Kein Mensch lief auf der Straße, keine Stimme war zu hören, kein Lichtschein drang aus schmalen, hohen Fenstern. Es herrschte eine bedrohliche, ängstlich machende Stille. Aber dann wagten es die beiden Flüchtigen: Durch einen Vorgarten drangen sie ein in ein unverschlossenes Haus. Nach einigen Minuten angestrengten Horchens, und nachdem sich ihre Augen an das Dunkel gewöhnt hatten, waren sie überzeugt, dass dieses Haus, gewiss auch alle anderen Häuser an dieser Straße, ohne Leben war. Sie erkundeten die wenigen Räume und sahen sich nach einer Schlafstätte um, die sich ihnen bald in Form zweier Brettergestelle mit darauf befindlichen, platt gelegenen Strohsäcken anbot. Auf dem Hof hinter dem Haus, der in einen verwahrlosten Garten mündete, entdeckten sie eine Pumpe, die sie so lange betätigten, bis sie der Meinung waren, das Wasser könne zum Trinken nun sauber genug sein. Anfangs erschreckte sie das Quietschen des Pumpenschwengels, das sie weithin verraten könnte. Doch nun war es zu spät, und sie beruhigten sich in der berechtigten Annahme, dass sie zurzeit tatsächlich die einzigen Menschen in dieser Wohngegend seien. Jetzt nur noch schlafen! ‒ Sie schliefen bis in den späten Vormittag des nächsten Tages hinein. Im Gegensatz zu ihren bisherigen Schlafstätten waren diese zusammengezimmerten, mit Strohsäcken belegten Bettgestelle der reine Luxus.
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