„Er hat geschossen. Nicht auf mich. Vielleicht wollte er mich nur erschrecken. Dann ist er davongelaufen. Ich möchte hier weg.“
Sie sagte es im gleichen Atemzug und der verstörte und ängstliche Blick fiel bei Satorius auf fruchtbaren Boden.
„Ja, lassen sie uns von hier verschwinden, bevor die Polizei eintrifft. Irgendjemand wird sie schon verständigt haben.“
Er ergriff Maggies Hand und lief am Haus vorbei in die Richtung, wo er das Auto abgestellt hatte. Maggie stolperte hinter ihm her und konnte auf ihren Schuhen mit den hohen Absätzen nur schwer das Gleichgewicht halten.
Sie saßen kaum im Auto, als sie die herannahenden Polizeisirenen hörten. Satorius legte den Gang ein und langsam und unauffällig verließen sie den Ort, an dem sie glaubten, etwas erfahren zu können.
Satorius schlug den Weg zurück nach Hermeskeil ein. Hier konnten sie nichts mehr erreichen. Er hielt es für unsinnig, heute noch nach Balthoff zu suchen. Der würde irgendwo untertauchen und der Grund lag offensichtlich auf der Hand. Er wusste, dass man hinter ihm her war und Satorius bedauerte es aufrichtig, dass er kein Interview mit ihm führen konnte. In der momentanen Situation hätten die Aussagen einiges bewirken können. Er, Satorius, hätte die gewünschten Informationen für seine Storys gehabt und vielleicht hätte der Täter gerade durch die Veröffentlichung zumindest sein Vorhaben verschoben. Zeit, um neue Strategien zu erarbeiten, für die Polizei, für ihn selbst als Sensationsreporter.
Während der Wagen die Stadt verließ und die Autoauffahrt nahm, öffnete Maggie, die bis dahin kein Wort gesprochen hatte, ihre Handtasche und brachte ein seidenes Taschentuch zum Vorschein. Sie klappte den Spiegel an der Sonnenblende auf und tupfte sich die Stirn ab. Mit einem Lippenstift zog sie die verblassten Konturen nach. Dann richtete sie ihre Frisur.
Der offenen Handtasche entströmte ein Hauch von Pulvergeruch.
Rainer Balthoff öffnete die Korridortür seiner Erdgeschosswohnung. An der Haustür hatte jemand seine Klingel betätigt. Er hatte durch das Schlafzimmerfenster vorsichtig nach draußen geschaut und einen Mann bemerkt, der vor der Haustür stand. Da er halb in der Türnische verschwand, war es Balthoff nicht möglich, sein Gesicht zu sehen.
Der Mann klingelte kein zweites Mal, aber er blieb vor der Haustür stehen.
Balthoff zögerte. Suchte man bereits nach ihm? Hatte der Mörder ihn schon gefunden? Kurz entschlossen fasste er einen Entschluss. Er raffte alles vorhandene Geld zusammen, steckte seine Autoschlüssel ein und griff nach seiner Jacke, die er gleich überstreifte. Er musste von hier verschwinden, vorerst. Er würde sich für einen Zeitraum verstecken, irgendwo, wo ihn niemand finden würde. Wo das sein würde, das wusste er selbst nicht. Sein einziger Gedanke war: Weg hier und zwar sofort.
Dann klingelte es an seiner Wohnungstür. Offensichtlich hatte jemand aus dem Haus den Summer betätigt. Balthoff entschied sich sofort. Er öffnete vorsichtig die Hintertür, die aus seiner im Erdgeschoss liegenden Wohnung auf den Hinterhof führte und sah sich nach allen Seiten um. Hier war niemand. Er zog die Tür leise hinter sich zu und sah sich um, suchte eine Möglichkeit, von hier aus zu verschwinden, ohne die Vorderseite des Anwesens zu passieren.
Plötzlich hörte er Schritte. Sie kamen von der Seite des Hauses, an der sich die Haustür befand. Der Mann! war sein erster Gedanke, seine Muskeln spannten sich. Dann bog eine Gestalt um die Ecke. Eine Frau. Er wollte gerade erleichtert aufatmen, als er die Pistole in ihrer Hand sah. Als sie ihn erblickte, hob sie wortlos die Waffe und legte auf ihn an.
Balthoff reagierte augenblicklich. Mit wenigen kräftigen Schritten erreichte er die Hecke und warf sich nach vorne in die Anreihung der Lebensbäume. Die Zweige zerrten an seiner Kleidung und zerkratzen sein Gesicht. Mit der letzten Anstrengung erreichte er die andere Seite und spürte gleichzeitig ein Zupfen an seinem rechten Oberarm. Es konnte keiner der Zweige sein, denn er hatte die Hecke bereits durchbrochen. Mit dem Zupfen hörte er auch den Knall und dann machte sich auch schon der Schmerz in seinem Arm breit.
Die Frau, dachte er. Die Pistole. Sie hatte auf ihn geschossen und seinen Oberarm getroffen. Seine Schnelligkeit hatte ihm offensichtlich das Leben gerettet. Er fühlte, wie das Blut seinen Arm hinunterrann und die Muskeln des Armes ihren Dienst versagten. Er drückte mit der Hand auf die Wunde, ignorierte Schmerz und Blutung und schaute sich kurz um. Dann entschied er sich für eine bestimmte Richtung. Er brauchte ärztliche Hilfe, dort, wo man ihn nicht vermutete.
Weder Overbeck noch Leni hatten Kriminaloberrat Peter Krauss kommen hören. Zu sehr waren sie in die Diskussion um Gerechtigkeit, Dienst nach Vorschrift und mangelnde Polizeipräsenz vertieft.
„Na, meine Herrschaften? Fleißig bei der Arbeit? Wie kommen Sie voran? Wie ist der Stand der Ermittlungen?“
Kraus schloss die Tür hinter sich und baute sich vor Lenis Schreibtisch auf. Overbeck, der während der Diskussion am Fenster stand, kam herbei und zog seinen Schreibtischstuhl mit dem Fuß zu sich.
„Wir haben ein vermeintliches Motiv“, sagte er trocken.
„Ein vermeintliches Motiv? Dieser Ausdruck ist mir in meiner gesamten Polizeizeit nicht begegnet. Was meinen Sie mit einem vermeintlichen Motiv?“
„Er meint, dass wir, wenn wir einen Tatverdächtigen hätten, ihm ein Motiv zuordnen könnten. Da wir aber keinen Tatverdächtigen haben, ist das Motiv möglicherweise hinfällig. Es sei denn, es gibt einen Tatverdächtigen, irgendwo. Dann existierte auch das Motiv … irgendwie. Oder so?“
Was nun folgte, war Schweigen. Krauss stand mit offenem Mund da und man sah ihm an, dass er versuchte, sich durch den Wirrwarr von Lenis Aussage durchzukämpfen. Schließlich sagte er: „Wenn man ein Motiv hat, hat man auch einen Tatverdächtigen oder zumindest jemanden, der einen Grund hätte, eine Tat zu begehen, also ein Motiv. Ich meine, dann hätte er ja ein Motiv, der Tatverdächtige.“
„Oder so.“ Overbeck verkniff sich ein Lachen. „Es ist kompliziert, aber man kann es durchaus verständlich erklären.“
„Dann tun Sie es doch, wenn ich darum bitten darf“, sagte Krauss unwirsch.
„Vor 18 Jahren geschah am Rande der Stadt Hermeskeil in einem abgelegenen Haus ein Mord. Ein amerikanischer Soldat wurde in seinem Haus von vier Männern überfallen …“
„Ja, ja, ich weiß“, stöhnte Krauss. „Er wurde mit einem Baseballschläger erschlagen. Seine Frau wurde vergewaltigt und seine Tochter floh aus dem Haus. Das haben Sie mir alles bereits erzählt.“
„Es ist ja nur zur Auffrischung wegen des Motivs und eines fehlenden Tatverdächtigen und zum besseren Verständnis. Also“, fuhr Overbeck fort, „die vier Täter wurden gefasst und haben ihre Strafen abgesessen. Vor wenigen Wochen wurden sie in das bürgerliche Leben entlassen.“
„Dann wurden zwei der Männer ermordet“, fuhr Leni mit der Erläuterung fort. „Genau an der Stelle, an der auch der Mord vor achtzehn Jahren geschah.“
„Der Tathergang war der gleiche wie damals“, sagte Overbeck, während Krauss schweigend zuhörte. Das meiste wusste er bereits, doch er hatte das Gefühl, dass die beiden noch einigen Neuigkeiten zu bieten hatten.
„Die beiden Männer wurden zu unterschiedlichen Zeiten auf grausame Art und Weise mit einem Baseballschläger hingerichtet“, fuhr Overbeck fort.
„Ich verstehe“, unterbrach Krauss nun doch seinen Redeschwall. „Damit begründen Sie das Motiv. Irgendjemand rächt sich für den Mord von damals, in dem er nach und nach die Täter hinrichtet. Wer also könnte der oder die Täter sein?“
„Genau da liegt das Problem.“ Overbeck ließ sich auf seinem Stuhl fallen, auf den er sich während seiner Ausführungen abgestützt hatte. „Die Familie bestand aus nur drei Personen. Jerry Thompson, der Soldat, Conny Heidfeld, seine Lebensgefährtin und Maggie Heidfeld, die gemeinsame Tochter.
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