Dann geschah etwas, mit dem weder er noch Maggie gerechnet hatten.
Overbeck stand am Fenster des gemeinsamen Büros und sah über die Häuser der Stadt Trier. Er war an diesem Morgen früher als gewohnt zum Dienst erschienen und hatte sich gewundert, dass Leni bereits an ihrem Platz saß und einen Stapel Akten vor sich liegen hatte.
Auf den Straßen in der Nähe des Präsidiums fuhren nur wenige Fahrzeuge an diesem Morgen. Ausschlaggebend war sicherlich auch die Baustelle an der sonst verkehrsträchtigen Kreuzung, eine willkommene Verkehrsberuhigung für Anwohner und Fußgänger.
„Rainer Balthoff, Franco Romano“.
Overbeck transportierte diese beiden Namen gedankenverloren in den Raum. Vor seinem geistigen Auge tauchten die beiden Toten Dellmann und Kerner auf, ihre Gesichter bis zur Unkenntlichkeit deformiert. Er und Leni hatten nicht verhindern können, dass der zweite Mord geschah, auch nicht die Hermeskeiler Polizei. Wie auch? Es gab nach der Entlassung der vier Mörder aus der Haftanstalt keine Ursache, hinter ihnen her zu ermitteln. Sie hatten ihre Strafen abgesessen und waren entlassen worden. Die Presse berichtete kurz darüber, dann nahm das Leben seinen gewohnten Verlauf. Nein, sie alle brauchten sich keine Vorwürfe zu machen.
Bis heute. Spätestens nach dem Mord an Kerner mussten sie davon ausgehen, dass zwei weitere Menschen in großer Gefahr schwebten. Zwei Männer standen an der Schwelle des Todes und waren nicht in der Lage, den Angriff auf sie aufzuhalten. Denn er würde unerwartet kommen. Vielleicht würden sie sogar in die Vorbereitungen zu ihrem eigenen Tod mit einbezogen. Vielleicht spielte der Täter mit ihnen. Vielleicht kannten sich Opfer und Täter ja sogar. Wo sollten sie mit der Suche beginnen, wie sollten sie die zukünftigen Opfer schützen? Wer waren die Täter, was waren ihre Motive?
„Was meinst du?“, fragte Leni ohne aufzusehen und blätterte weiter in den Akten, als suche sie etwas Bestimmtes.
„Was ist?“ Overbeck riss es aus seinen Gedanken.
„Was ist mit Rainer Balthoff und Franco Romano?“ Leni wartete die Antwort nicht ab. „Balthoff wohnt in Koblenz und Romano ist ins Nachbarland Luxemburg verzogen. Ich habe mit der dortigen Gendarmerie gesprochen. In Echternach betreibt er eine Pizzeria. Da Franco heißt sie bezeichnenderweise.“
„Hast du die Kollegen über die Brisanz der Angelegenheit informiert?“
„Ja, aber sie sehen keine Veranlassung, groß tätig zu werden. Ich habe sie gebeten, dass sie Romano zumindest von der Gefahr, in der er sich … befinden könnte, in Kenntnis setzen sollen.“
„Das ist überflüssig. Glaub mir, er weiß, in welcher Gefahr er sich befindet. Ich gehe mal stark davon aus, dass er auch bereits Maßnahmen getroffen hat. Immerhin ist er Italiener.“
„Was heißt das? Er ist Italiener.“
„Vielleicht hat er Freunde, die auf ihn aufpassen. Oder eine große Familie?“
„Ja, ja, oder die Mafia. Sie wird ihn beschützen.“ Es klang sarkastisch, als Leni es sagte.
„Wäre das so abwegig?“ Overbeck hatte während der kleinen Diskussion weiter aus dem Fenster gesehen und drehte sich nun zu Leni um. “Was würdest du tun, wenn du wüsstest, es ginge um dein Leben und die Gefahr könnte jeden Tag zu irgendeiner Zeit aus irgendeiner beliebigen Richtung kommen?“
„Ich würde die Polizei einschalten.“
„Die dann Tag und Nacht auf deinem Schoß sitzen würde? Glaube mir, bewachen können dich nur Leute, die Tag und Nacht um dich herum sind, nicht die Polizei. Aber das brauche ich dir ja nicht zu sagen. Nein, ich gehe davon aus, dass er selbst versuchen wird, sich zu schützen, auf welche Art oder mit welchen Personen auch immer.“
Leni legte die Stirn in Falten und blätterte weiter in den Akten. „Ich habe auch die Kollegen in Koblenz gebeten, zu Balthoff zu fahren und ihn über seine Situation aufzuklären.“
„Und ich weiß auch schon, was sie dir geantwortet haben.“
Leni sah auf und ihr Blick verdunkelte sich.
„Siehst du, ich habe Recht. Sie haben dir zwar zugesagt, im Rahmen einer Dienstfahrt bei Balthoff vorbeizufahren, nicht mehr und nicht weniger. Stimmt`s?“
„Ja, es stimmt, Nepumuk“, rief Leni und schlug den Aktendeckel zu, dass es staubte. „Was ist, wenn wir morgen oder übermorgen einen weiteren Toten haben. Einen, dem sie das Gesicht zerschlagen haben. Na, was dann? Können wir dann in aller Gelassenheit sagen, dass wir ja alles getan haben. Dass wir das nicht haben verhindern können, dass …!
„Leni!“, wurde nun auch Overbeck in seinem Tonfall lauter. „Du weißt genau, wie das läuft. Wenn wir eine Straftat verhindern können, dann tun wir das. In unserem Fall haben wir alles getan, was in unserer Macht steht. Die zuständigen Dienststellen wissen Bescheid …“
„Und wir sind den schwarzen Peter los. Das willst du doch wohl sagen. Soll ich dir mal was sagen? Ich bin nicht Polizistin geworden, um tatenlos mit anzusehen, wie Menschen umgebracht werden.“
„Aber du kannst es nicht verhindern“, sagte Overbeck nun leise. „Du nicht, ich nicht und auch nicht die Kollegen, die du informiert hast. Du wirst sehen, der Mörder wird sein Ziel erreichen. Und noch was.“
„Was?“, fragte Leni, den Kopf in beide Arme gestützt.
„Nenn mich nicht Nepumuk.“
Langsam bewegte sich Satorius Zeigefinger in Richtung des Klingelknopfs. Sein erstes Läuten war unbeantwortet geblieben, zuerst. Doch dann hatten er und Maggie Geräusche gehört, ein Scheppern, als seien Töpfe oder sonstige metallene Gegenstände zu Boden gefallen. Sie kamen auf der Wohnung im Erdgeschoss, offenbar der Behausung Balthoffs. Dann war alles wieder still.
„Da war doch jemand“, hörte er Maggie neben sich sagen, während er verzweifelt versuchte, durch die milchige Glasscheibe etwas im Inneren des Hausflurs zu erkennen. Es blieb ruhig und ohne Bewegung.
„Ein Hinterausgang? Aus seiner Wohnung?“, flüsterte Maggie und sah Satorius fragend an. „Soll ich nachsehen?“
Ehe Satorius eine Antwort herausbrachte, war sie schon davongeeilt, an der linken Seite des Hauses vorbei. Dann war sie verschwunden.
Satorius schüttelte den Kopf. Frauen, dachte er. Ohne Überlegung einfach handeln. Musste das jetzt sein? Was war, wenn Balthoff ihr tatsächlich über den Weg liefe? Bei dem Gedanken, dass Maggie etwas zustoßen konnte, begann sein Herz höher zu schlagen. Er lauschte noch einen Moment, dann beschloss er, ihr zu folgen.
Als er sich von der Tür wegdrehte, fiel ein Schuss.
Meg! war sein erster Gedanke. Dann merkte er, wie er lief, automatisch, ohne nachzudenken. Er lief an dem Haus vorbei, den Weg entlang, den Maggie genommen hatte und bog um die Ecke.
Meg!
Gott sei Dank!
Maggie stand mit dem Rücken an die Hauswand gelehnt. Mit beiden Händen drückte sie ihre Handtasche gegen ihren Körper. Satorius sah, dass sie zitterte.
„Was ist geschehen“, rief er und eilte auf sie zu. „Wer hat geschossen?“
„Da …!“, stotterte Maggie. „Er ist dorthin gelaufen. Durch die Hecke. Er ist weg.“
„Wer ist weg? Was ist geschehen? Sagen Sie es doch.“
„Es muss Balthoff gewesen sein.“ Maggie atmete schwer. „Er hatte eine Pistole. Er kam dort aus dem Hinterausgang. Scheint zu seiner Erdgeschoss-Wohnung zu führen.“
Sie zeigte mit der rechten Hand dorthin, wo sich eine Metalltür befand. Offensichtlich war sie wieder zugefallen oder hatte einen automatischen Türschließer. Mit der anderen Hand presste sie weiter ihre Handtasche gegen ihren Körper.
„Hat er auf Sie geschossen?“ Satorius kam auf sie zu. Er hatte das Bedürfnis, sie irgendwie zu beruhigen. Am liebsten hätte er sie in die Arme geschlossen und sie hätte sich an seiner Brust ausgeweint. Doch er hielt sich zurück und wartete auf ihre Antwort.
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