„Denken Sie nach, Herr Kerner. Ich bin mir ziemlich sicher, dass Ihnen irgendwann einfällt, dass Sie mich doch kennen. Sie müssen es mir dann nicht mitteilen. Wenn ich es wissen will, werde ich Sie es persönlich fragen.“
„Woher wissen Sie meinen Namen …?“
„Wir sehen uns“, überging sie seine Frage. „Ganz bestimmt werden wir uns wiedersehen.“
Dann verschwand sie im Gewühl der Menge.
Kerner war so in seine Gedanken versunken, dass er auf eine junge Frau auflief, die ein Kind an der Hand mit sich führte.
„Tschuldigung“, stotterte er und beeilte sich, um an dem Bierstand, den man in seinen Kreisen Männerkarussell nannte, einen Platz zu ergattern.
„Ein Bier“, bestellte er. „Und einen Schnaps.“
„Schnaps gibt es keinen“, sagte der Mann hinter dem Zapfhahn gleichgültig. „Ihr Bier.“ Er stellte es vor Kerner ab.
„Machen Sie mir noch eins.“
Kerner schüttete das kalte Getränk in einem Zug in sich hinein, bis ihm die Tränen in die Augen traten. Als er die Hälfte des zweiten Biers getrunken hatte, fühlte er sich besser. Was wollte die Frau von ihm und vor allem, wer war sie? Warum und woher sollte er sie kennen? Nach seiner Entlassung aus dem Knast hatte er kaum Gelegenheiten gehabt, Frauen kennenzulernen. An diese hätte er sich bestimmt erinnert. Und im Knast? Nein, da war nichts mit Frauen, auch nichts mit Frauen als Besucherinnen. Also woher kannte sie ihn?
Kerner bestellte ein weiteres Bier und der junge Mann neben ihm bestellte eine Cola. Als der Bediener ihm die Flasche über den Tresen reichte und das Bierglas Kerners gleich daneben stellte, stieß der Mann so unglücklich gegen den Flaschenhals, dass die Flasche umkippte und Kerner sie mit einer blitzschnellen Bewegung auffing, ehe der gesamte Inhalt ausgelaufen war. Der junge Mann bedankte sich artig und setzte die Flasche an seine Lippen. Kerner trank ebenfalls und als sein Glas leer war, bestellte er ein neues. Er schaute nach links. Der junge Mann, der neben ihm gestanden hatte, war gegangen.
Kerner spürte die wohlige Wirkung des Alkohols und die Konturen vor ihm begannen sich langsam unkontrolliert zu bewegen. Er bezahlte und ging. Ich werde alt, dachte er. Drei Bier und eine solche Wirkung. Kommt vom schnellen Trinken. Ich werde wohl früh zu Bett gehen.
Er machte sich auf den Weg zu seiner Behausung und wunderte sich, wie sich mehr und mehr sein Gesichtsfeld verengte.
Plötzlich spürte er eine Hand auf seiner Schulter.
„Die Presse wird auch langsam lästig“, bemerkte Leni, als sie die Stadtgrenze von Hermeskeil erreicht hatten und Overbeck das Gas durchtrat. „Ein Reporter namens Satorius. Er wollte Einzelheiten über den Mord an Thompson vor 18 Jahren.“
„Die Presse will Auskünfte über einen Vorfall aus längst vergangener Zeit?“, wunderte sich Overbeck. „Was wollte er wissen und warum?“
„Er wollte von mir die Anschriften der entlassenen Täter, der Zeugen und Menschen, die damals mit der Angelegenheit konfrontiert waren.“
„Und warum das Ganze?“ Overbeck bog hinter dem Stadtteil Höfchen nach links ab in Richtung Schwarzwälder Hochwald.
„Angeblich hat er den Auftrag, mit dem Abstand der 18 Jahre die Story noch einmal aufzuwärmen. Menschengeschichten nennen sie das.“
„Sommerloch nenne ich das“, lachte Overbeck. „Irgendetwas muss ja in den Zeitungen stehen, jetzt, da sowieso nicht allzu viel los ist.“
Lenis Gedanken waren längst wieder bei dem Fall, den sie zu bearbeiten und aufzuklären hatte.
„Ich mache mir die ganze Zeit Gedanken darüber, wer für den Mord an Dellmann in Frage kommen könnte. Auf der Suche nach einem Motiv tue ich mich sehr schwer, denn ich denke, dass nur Überlebende von damals einen solchen Rachegedanken spinnen können.“
„Vielleicht ist es ja auch nur ein Sympathisant, ein Freund der Familie oder so was Ähnliches, was weiß ich. Ein Rachefeldzug nach 18 Jahren, Leni. Da steckt eine Menge Hass dahinter. Das ist nicht nur eine Vergeltungstat.“
„Du meinst wegen der Brutalität der Tatausführung? Das sehe ich auch so. Aber das macht es nicht einfacher. Wenn es tatsächlich ein Racheakt war -und einiges spricht ja dafür- dann wird es weitere Morde geben. Morde, die wir verhindern müssen.“
„Die wir nicht verhindern können.“
Inzwischen hatten sie Forstenau erreicht und Overbeck lenkte den Wagen von der Hunsrückhöhenstraße in den Ort ein.
„Lass uns noch etwas zusammen trinken“, schlug Leni vor. Im Hochwaldstübchen. Dort wohne ich nämlich.“
Auf dem Parkplatz neben der Gaststätte stand Lenis Auto, das sie am Morgen nach der Abfahrt in Trier dort abgestellt hatte. Sie deutete mit dem Kopf in die Richtung des Fahrzeuges.
„Ich werde hierbleiben und bin morgen früh rechtzeitig auf der Dienststelle.“ Und spitzbübisch fügte sie hinzu: „Ich glaube, ich werde mehr als ein Bier trinken, heute Abend.“
Der Betrieb im Hochwaldstübchen hielt sich in Grenzen. Vieles war nicht mehr so wie früher. Der Stammtisch wies leere Stühle auf. Heiner Spürmann hinterließ eine Lücke, was insbesondere der Kulturbeauftragte Dieter Lauheim zu spüren bekam. Ihm fehlten die Diskussionen auf kommunalpolitischer Ebene und auch die ständigen Fragen im kulturhistorischen Bereich. Wie oft hatte Spürmann ihn zu Rate gezogen. Dann konnte er sich in Referaten über die verschiedensten Themen auslassen und meist hatte Spürmann davon profitiert.
Und Pastor Adalbert Schaeflein? Seine Pensionierung stand kurz bevor und damit auch sein Weggang von Forstenau. Er hatte bereits mehrfach angekündigt, im Falle seiner Emeritierung im Saarland ansässig zu werden. Seine Haushälterin, die nichts Anderes kannte als das Dasein im Pfarrhaus und die Arbeiten für ihren Pfarrer, werde er mitnehmen, als private Haushälterin. Sie sollte eine Bleibe für den Rest ihres oder aber seines Lebens haben.
Florian Glasheber, den Förster des Staatswaldes, hatte man lange Zeit nicht im Hochwaldstübchen gesehen. Ein Verkehrsunfall hatte ihm schwer zugesetzt und das Verheilen der verschiedensten Knochenbrüche, abgesehen von der Heilung der verletzten inneren Organe, brauchte seine Zeit. Wie sehr er auch seinem Berufsstand fehlte, machte sich in der Verwilderung des Hochmoors Weyrichsbroch im Osburger Hochwalds bemerkbar. Die Pflege dieses einmaligen Naturschutzgebietes, dessen 800 Meter langer Knüppeldamm jährlich Tausende von Besuchern anzog, ließ seitdem zu wünschen übrig.
Da waren noch Detlef Hildebrandt, der kommunale Ortsbürgermeister, Siegfried Brandel, der Feuerwehrchef und der bereits erwähnte Dieter Lauheim, die weiter den Stammtisch aufrechterhielten.
Siggi Vollmann, der Wirt, hatte in jeder freien Minute bei seinen Stammtischkollegen gesessen bis zu jenem Tag, als sich seine geliebte Tochter Sandy in Frankfurt aus Verzweiflung den goldenen Schuss gesetzt hatte. Von jenem Tag an ging es auch gesundheitlich bergab und Lissy, seiner Frau, blieb die meiste Arbeit in der Gaststätte. Wenn es Siggi besserging, unterstützte er seine Frau, so gut er es konnte.
Wir werden die Kneipe irgendwann dichtmachen, hatte Lissy mehrmals angekündigt, doch irgendwie brachte sie es nicht übers Herz und so wirtschafteten die beiden mit mäßigem Erfolg, sprich Einnahmen, weiter.
Als Leni und Overbeck das Lokal betraten, verstummte das Gespräch der wenigen Gäste. Leni kannte man in diesem Hause, denn sie wohnte seit geraumer Zeit im Obergeschoss, über der Kneipe in der Wohnung, in der die Tochter der Vollmanns zu ihren glücklichen Zeiten gewohnt hatte. Zudem sah man sie des Öfteren in der Gaststätte bei Lissy, der sie, wann immer es ihr möglich war, zur Hand ging und kellnerte.
„Wen haben wir denn da?“, tönte es aus dem Bereich des Stammtisches. „Frau Schiffmann und … Spürmann hätte ich fast gesagt. Aber der hat uns ja verlassen.“
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