Der Flur wurde zum Wohnzimmer und zur Küche hin breiter und gab auf der linken Seite den Blick auf das Badezimmer frei. Hier erinnerte vieles an eine Wohnung, die liebevoll eingerichtet wurde, um inneres Chaos durch äußere Ordnung auszugleichen.
Eine Veränderung gab es: Ihr letzter Besuch lag fast ein halbes Jahr zurück. Damals war Lea gerade einen Monat alt gewesen. Die Wohnzimmereinrichtung jetzt glich einem Schlachtfeld. Auf dem Teppich befanden sich Autos, Plüschtiere und anderes Spielzeug. Dass sogar das Sofa Chaos verbreitete, wunderte Rebecca, denn sonst war Lydia immer auf Ordnung bedacht – und zwar in sämtlichen Angelegenheiten, was auch die spießbürgerliche Einrichtung im Hausflur verdeutlichen sollte.
»Tut mir furchtbar leid, dass es so wild aussieht«, sagte Lydia leicht gequält, als ob sie Rebeccas Gedanken hatte lesen können. »Wir kommen nicht mehr zum Aufräumen, seitdem die Kleine krabbelt und alles durch die Gegend wirft.« Sie sah die Schuldgefühle in Lydias Augen aufblitzen.
»Und wie läuft es bei euch?«, fragte Tom, um vom Thema abzulenken.
»Du weißt ja, in meiner Abteilung ist immer viel los. Erst letzte Woche musste ich wieder mit einer Kollegin ein Personalgespräch führen, nachdem sie mir gesagt hatte, dass sie vorhat, weniger Stunden arbeiten zu wollen.« Wie gesprächig Paul mit einem Male war!
In seiner Position als Abteilungsleiter einer Firma, die sich mit Finanzen beschäftigte, hatte er immer viel mit Menschen zu tun und musste ständig mit seinen Angestellten sprechen. Mit Rebecca hatte er aber offenbar nicht mehr viel zu bereden.
Tom, der genau wie Paul auch in seiner Abteilung der Leiter war, hakte sofort nach. Dann tauschten sie sich über beruflichen Kram aus, während Lydia und Rebecca daneben saßen und den Männern beim Plaudern zuhorchten. Tom sprach weniger gestresst von der Arbeit, als es Paul tat. Er meckerte nicht so viel, schien ausgeglichener zu sein, trotz des Stresses zu Hause. Gerade mit Kind.
Lydia hatte nicht viel zu der Konversation beizutragen. Vor ihrer Schwangerschaft und Elternzeit hatte sie im Krankenhaus als Assistenzärztin in der Urologie gearbeitet. Als feststand, dass sie schwanger war, hatte sie die Arbeit sofort an den Nagel gehängt, um das Kind in ihrem Bauch nicht zu gefährden.
Lydia war vor ihrer Schwangerschaft eine äußerst lebenslustige, gesellige junge Frau gewesen. Tom und sie waren oft auf Partys unterwegs gewesen oder hatten Bekannte besucht. Rebecca kannte sie als Frau, die gern lachte und immer einen lockeren Spruch auf den Lippen hatte. Jetzt wirkte sie in sich gekehrter, reifer, abgeklärter. Sie beugte sich über das Baby, das neben ihr zu quengeln begann und streichelte zärtlich über die Wange des Mädchens. Wie liebevoll sie die Kleine umsorgte.
Lydia führte genau das Leben, von dem Rebecca träumte und um das sie ihre Freundin beneidete: verheiratet, Kind, Haus, Liebe.
Nach dem Essen zogen sich Paul und Tom mit einem Bier auf die Couch zurück. Lydia musste Lea zu Bett bringen und fragte Rebecca, ob sie sie begleiten wollte. Sie spürte, dass Lydia etwas auf dem Herzen hatte und mit ihr allein sein wollte. Rebecca vermutete, dass ihre ungewöhnliche, introvertierte Art, die sie so gar nicht an ihr kannte, einen Grund haben musste.
Im Kinderzimmer des Babys befand sich rechts neben der Tür die Wickelkommode, auf deren Ablage bunte Bärchen abgebildet waren. Lydia legte als Erstes Lea dort drauf und begann damit, der Kleinen neue Windeln anzulegen.
Rebecca schaute sich im Kinderzimmer um. In der Mitte stand das Gitterbett. Auf der linken Seite hatten die Eheleute einen grün-rosa lackierten Schrank aufgestellt. Die komplette Einrichtung wirkte sehr friedlich. Die Tapete mit den Sternen, dem lachenden Mond und der Sonne unterstrich diesen Eindruck perfekter Harmonie. Gleichzeitig fand Rebecca das Zimmer furchtbar spießbürgerlich; wie alles in diesem Haushalt.
Lydia legte Lea ins weißlackierte Babygitter und setzte sich auf einen Stuhl daneben. Die Mutter streichelte das Mädchen, sang ein Gutenachtlied, während sie den Kopf schräg über das Gitter neigte. Trotz dieses so ursprünglichen Bildes, das eine Ruhe sondergleichen ausstrahlte, wurde sie das Gefühl nicht los, dass Lydia mit ihren Gedanken gar nicht bei der Kleinen war.
Lea war schon vor einigen Minuten eingeschlafen, doch Lydia streichelte sie noch immer. Plötzlich sah Rebecca in Lydias Auge eine Träne aufblitzen, die sich den Weg die Wange hinunter bahnte. »Was hast du?«, fragte sie sorgenvoll und streckte die linke Hand nach der Schulter ihrer Freundin aus.
Lydia drehte sich zu ihr herum, dann begann sie leise: »Ich weiß nicht, wem ich meine Gefühle anvertrauen kann, Beccy.«
Weil Lydia schluchzte, nahm Rebecca sie in den Arm, um sie zu trösten, ihr das Gefühl zu geben, bei ihr zu sein. Als sie sie losließ, begann sie leise: »Ich glaube …« Das Sprechen fiel ihr sichtlich schwer. »… Tom hat … eine Affäre.« Wie bitte? Das konnte nicht sein! Er machte stets den Eindruck eines liebevollen Vaters, der wie ein Löwe für seine Familie einstand. Was Lydia jetzt sagte, schockierte sie bis ins Mark.
»Wie kommst du denn darauf? Hat er es dir gesagt?« Sie schüttelte den Kopf.
»Nein, aber …« Lydias Lippen bebten und ein heftiges Schluchzen suchte sich einen Weg aus ihrem Mund. »Aber es ist … etwas vorgefallen.«
Nur schwer fand Lydia die Worte wieder. »Die Abteilung, in der Tom arbeitet, hat erst im Januar die Weihnachtsfeier nachgeholt, weil Tom ja in den ersten Monaten Babyurlaub genommen hat.« Lydia senkte den Kopf, rang um die richtige Wortwahl.
»Zu dieser Weihnachtsfeier waren auch die Ehegatten und Freunde eingeladen, es sollte in einem größeren Rahmen stattfinden, weißt du?« Rebecca nickte. »Lea haben wir an diesem Abend bei meiner Mutter abgegeben. Es war das erste Mal, dass wir sie bei jemand anderem gelassen haben. Du kannst dir gar nicht ausmalen, welche Gedanken mir an diesem Abend durch den Kopf gingen. Ständig war ich besorgt, ob alles klappt, ob sich die Kleine fürchtet, wenn sie spürt, dass ihre Eltern nicht da sind. Trotzdem musste ich unbedingt das Haus verlassen und bin zur Weihnachtsfeier mitgefahren. Wir kamen mit Verspätung an, da wir ja Lea noch fortgeschafft haben. Tom suchte sich sofort einen Platz nahe seinen Arbeitskollegen. Aber seltsamerweise nicht neben irgendeinem männlichen Kollegen, sondern neben seiner Sekretärin Denise. Schon beim ersten Kennenlernen mit ihr spürte ich, wie vertraut sich beide sind, Tom und sie. Ich kann es schlecht beschreiben, eine Ehefrau merkt, wenn ihr Mann sich zu einer anderen Frau hingezogen fühlt. Es lag ein Kribbeln in der Luft, wenn sich beide so angesehen haben.«
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