Tom stand noch immer am Treppenaufgang. »Wo ist Lydia?«, fragte er beinah herrisch, als Rebecca das Hausflur erreichte.
»Die Kleine schläft nicht ein. Lydia muss noch ein Schlaflied singen.«
Er setzte ein skeptisches Gesicht auf. »Komisch, warum hat Lea nicht geweint? Wenn sie nicht einschlafen kann, weint sie in der Regel.« Er erwartete eine Antwort.
»Sie … war bereits eingeschlafen … und nun ist sie aufgewacht … als du gerufen hast.«
Verwundert zog Tom den Kopf nach hinten und sagte langsam: »Verstehe.« Dann begleitete er Rebecca ins Wohnzimmer, wo Paul lässig auf der grauen Couch saß.
Inzwischen waren die Männer zum Wein übergegangen. Tom setzte sich leger neben seinen Freund, während Rebecca etwas abseits von Paul Platz nahm. Sie beobachtete die beiden beim Reden, während sie selbst an einem Glas Weißwein nippte.
Tom und Paul waren beide Anfang Vierzig. Lydias Mann war etwas schlanker als ihr Freund, dafür hatte Paul mehr Haare auf dem Kopf. Bei Tom konnte sie erste graumelierte Strähnen erkennen. Zusammen mit seinem Dreitagebart ging er als ganz ansehnlicher Mann durch, der sicherlich gut bei jüngeren Damen ankam. Im Anzug, den er für gewöhnlich auf Arbeit tragen musste, machte er bestimmt keine schlechte Figur.
Welche Liebschaften er aber vor Lydia hatte, wusste Rebecca nicht. Ob er einer Affäre mit seiner Sekretärin offen gegenüberstehen würde?
»Ach so, Paul. Und dann hat Denise noch gesagt, dass sie uns gern mal besuchen würde. Sie möchte unbedingt meine Tochter kennenlernen. Sie liebt Kinder.« Paul nickte.
Mit welch einer Leidenschaft Tom von seiner Sekretärin sprach! In Anwesenheit seiner Ehefrau hätte er garantiert nicht so inbrünstig von ihr geschwärmt.
Nach einer Viertelstunde erschien Lydia. Sie setzte sich wortlos neben Rebecca und schaute nach unten auf den Teppich. Nach wenigen Minuten sagte sie: »Ich gehe das Geschirr aufräumen«, und verschwand in der Küche.
»Geht es deiner Frau nicht gut?«, fragte Paul, der ja nicht ahnen konnte, was für ein Drama sich im oberen Stockwerk abgespielt hatte.
»Ach was. Ist halt alles stressig mit der Kleinen.« Rebecca aber dachte sich ihren Teil.
Es war weit nach 21 Uhr, als Rebecca und Paul das Haus von Tom und Lydia verließen. Paul war angetrunken, weshalb Rebecca fuhr. Sie beschäftigte noch immer, was ihr ihre Freundin anvertraut hatte. »Sag mal, was hat dir Tom eigentlich über Denise erzählt?«
Nachdem Paul Alkohol getrunken hatte, war er deutlich gesprächiger als sonst. »Nichts weiter. Nur, dass sie irgendwann vorbeikommen will, um seine Tochter zu sehen.«
»Ja, das weiß ich, da war ich dabei«, sagte Rebecca gereizt. »Aber ihr habt doch schon vorher über sie gesprochen, als Lydia und ich oben waren.« Paul überlegte kurz.
»Nicht viel. Sie ist seine neue Sekretärin. Er hat ein wenig über ihr Privatleben erzählt. Wieso fragst du?«
»Du hast sie doch bestimmt schon gesehen, oder? Sieht sie gut aus?«
Wieder zögerte Paul kurz. »Schlecht sieht sie nicht aus. Um die Zwanzig, ziemlich durchtrainiert und mit langen blonden Haaren.«
Rebecca hörte den anerkennenden Unterton in der Stimme ihres Freundes mitschwingen. »Meinst du, Tom steht auf sie?« Paul gab keine Antwort.
Da es zu finster war, konnte Rebecca auch keine Reaktion in seinem Gesicht erkennen. Die Pause dauerte ihr zu lange. »Hat dir Tom irgendwas gesagt? Findet er sie gut, wie versteht er sich mit ihr?« Wieder blieb Paul ihr die Antwort schuldig.
Rebecca atmete schwer aus.
»Worauf willst du denn hinaus, Beccy?«, platzte es aus ihm heraus.
Sie lachte auf. Als ob er das nicht wüsste! »Traust du Tom zu, dass er Lydia betrügt?«
»Tom soll fremdgehen? Das glaube ich nicht«, sagte Paul schnell. Rebecca hörte trotzdem einen seltsamen Unterton in seiner Stimme. »Ich meine … Tom ist ein Mann … Er hat mir erzählt, dass er Denise … Aber er würde Lydia doch nicht … Nein, ich meine …«
Offenbar wusste Paul mehr, als er Rebecca gegenüber eingestehen wollte. Er beendete das Thema, indem er einfach die angefangenen Satzbrocken nicht mehr fortsetzte. Er schwieg, bis sie zu Hause ankamen.
Der einzige Lichtblick für Rebecca, nach diesem von schlechtem Sex und Ehekrisen überschatteten Wochenende, bestand darin, Lou wiederzusehen.
Es war ein kalter Dienstagmorgen mit Minus drei Grad Celsius. Rebecca beeilte sich schnell ins Schulgebäude zu kommen. Die Absätze ihrer Stiefel knallten mit schnellen Schlägen über das harte Kopfsteinpflaster.
Im Foyer angekommen, traute sie ihren Augen nicht: Elouan saß auf einer der kargen Bänke. Er trug lediglich einen Pullover, was bedeutete, dass er da seit geraumer Zeit saß, wenn er bei diesen widrigen Temperaturen seine Jacke bereits losgeworden war.
Als er Rebecca am Eingang entdeckte, erhob er sich und lächelte freundlich. »Guten Morgen, Frau Peters.« Sie schenkte ihm ein zartes Lächeln, bevor sie nah an ihm vorbeihuschte und ihr sein vertrauter Duft in die Nase stieg. »Sie sind sehr zeitig da.«
Rebecca drehte sich zu ihrem Schüler um, am Treppengeländer zur ersten Etage wartend. »Das Gleiche könnte ich dich fragen. Was tust du so früh hier?«
Lou lächelte erneut, schaute sie mit leicht schrägem Kopf an und sagte: »Ich habe eine eigene Wohnung in der Neustadt. Konnte nicht mehr schlafen. Hatte Sehnsucht nach …« Wieder grinste er. Während Lou sie verschmitzt von der Seite musterte, fragte sich Rebecca, ob er schamlos mit ihr flirten wollte.
»Hatte Sehnsucht nach der Schule, nach all den wunderbaren Menschen hier …« Rebecca kniff die Augen zusammen und zog die Stirn in Falten. Warum sagte er so seltsame Dinge? Und weshalb betrat er weit vor allen anderen Schülern das Gebäude?
»Lou, was ist los mit dir?« Er antwortete nicht, sondern drehte sich wortlos weg und lief zu seiner Bank zurück.
Baff von dem merkwürdigen Verhalten ging Rebecca die Treppe zum ersten Stock Richtung Lehrerzimmer hinauf, wobei sie permanent an ihren Schüler dachte.
Als sie Elouan zur Deutschstunde wiedersah, stand er nach wie vor neben sich, denn er meldete sich über die Maßen, redete aber von Dingen, die nichts mit dem Unterrichtsthema oder dem Lernstoff zu tun hatten. Mehrfach drehten sich die Mitschüler um, schüttelten mit dem Kopf oder verdrehten die Augen, als er zum Sprechen ansetzte.
Lou machte ungehindert mit seiner Märchenstunde weiter: »Wussten Sie«, begann er, während Rebecca den Mitschülern das Argumentationsschema von Sachtexten begreiflich machte, »dass die meisten Menschen sich nie trauen würden, das zu tun, was ich mache?«
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