Sie schaute auf, betrachtete Lou streng und sagte unter den Augen seiner Mitschüler scharf: »Was um Himmels willen meinst du und was hat das mit unserem Thema zu tun?«
»Frau Peters, die meisten Menschen ziehen sich nach einer Niederlage in ihr Loch zurück. Sie machen sich Vorwürfe, dass ihr Leben verkorkst ist. Aber ich weiß es besser. Ich war schon ganz unten«, dabei stand er auf und hockte sich hin, »und nun stehe ich ganz oben.« Elouan machte einen euphorischen Sprung in die Luft.
Die Münder der Mitschüler standen offen, manche lachten. Ein fieser Kommentar fiel.
Rebecca wusste nicht, was sie antworten, geschweige denn, wie sie reagieren und auf den Unterrichtsinhalt umlenken sollte.
Sie beschloss, bei Gelegenheit in seiner Schülerakte zu blättern, um mehr über seine Krankheit zu erfahren. Es war das erste Mal, dass sie ihren Schüler in einer derartigen Verfassung erlebte. Als ob er nicht er selbst wäre.
Nach neunzig Minuten ertönte das Klingelzeichen, das die große Pause einläutete. »Lou, warte mal kurz«, sagte Rebecca, als die Mitschüler des Zwanzigjährigen gerade das Zimmer verließen. Alicia warf einen sorgenvollen Blick zu Elouan, der bereits seine Tasche geschultert hatte und am Lehrertisch stand.
In seinen blauen Augen waren Schuldgefühle erkennbar: »Frau Peters, ich weiß, was Sie mir sagen möchten«, kam er Rebecca zuvor.
»So?«, fragte sie und stemmte die Faust in die Taille.
»Ich habe mich falsch verhalten. Habe Dinge gesagt, die meinen Mitschülern und Ihnen seltsam vorgekommen sind.« Zumindest war er in der Lage, sich ehrlich einzuschätzen.
»Ja, du hast dich heute sehr merkwürdig verhalten. Das kenne ich so nicht von dir. Ich meine …« Sie geriet ins Stocken, da sie nicht wusste, wie offen sie mit ihm sprechen durfte. »Du bist ein netter, liebenswürdiger junger Mann. Du arbeitest schön mit, gibst kluge Antworten. Man kann guten Unterricht mit dir machen. Heute aber nicht.«
Elouan sah beschämt auf seine Schuhe und wippte mit den Fußsohlen auf und ab. »Ich …« Seine Lippen formten Wortbrocken, während er den Kopf gesenkt hielt. »Ich weiß nicht …« Auch diesen Satz brach er ab. Plötzlich, aus heiterem Himmel, schluchzte Lou und dicke Tränen liefen ihm die Wange hinunter.
Er wirkte so zerbrechlich. Rebecca konnte nicht erkennen, welchen Fehler sie gemacht hatte oder was Elouan ernstlich bedrückte. »Lou?« Sie trat nah an ihn heran und legte ihre Hand auf seinen linken Oberarm, der durch einen schwarzen Pullover verdeckt wurde. Sanft streichelte sie auf und ab, tröstend, aber mit dem Gefühl, ihn umarmen zu müssen. Als ob er ihre Gedanken erraten hätte, ließ er sich nach vorn in ihre Arme gleiten.
Er weinte, schluchzte heftig, während er seine Hände fest um ihren schlanken Körper legte. Elouan konnte nichts mehr sagen, wurde von seinen Gefühlen übermannt.
Rebecca genoss die Nähe, streichelte fürsorglich über den Rücken des Zwanzigjährigen, der nun mit den Händen an ihren Schulterblättern entlangfuhr und dann sanft zu ihrer Taille und Hüfte nach unten wanderte.
Alicia, die als Letzte aus dem Raum gegangen war, hatte die Tür hinter sich zugeworfen. Kein Lehrer, der zufällig auf dem Gang vorbeikam, konnte erahnen, was sich im Deutschraum abspielte.
Die Zeit schien stehengeblieben zu sein, die Welt stand still. Noch immer ruhte Lou in Rebeccas Armen. Ihre Hände glitten zart über seinen Rücken und Lou berührte sanft ihre schlanke Silhouette. Seine Berührungen waren das Labsal, das sie gebraucht hatte. Sie genoss jede Sekunde, in der er ihr nahe war und sie ihn berühren durfte. Erst, als er an ihrem Po ankam, hörte er, scheinbar erschrocken über die Intimität, die er ihr geschenkt hatte, auf und blickte Rebecca, die ihn am liebsten nicht mehr losgelassen hätte, in ihre braunen Augen.
»Frau Peters«, schluchzte er. »Ich schäme mich so.« Sie schüttelte mitleidvoll den Kopf. »Doch. Ich schäme mich. Die anderen müssen mich für einen absoluten Trottel halten!«
»Quatsch, du hattest einen schlechten Tag«, beruhigte Rebecca.
Nach einer kleinen Pause sagte Lou leise: »Darf ich Sie um etwas bitten?« Sie nickte. »Bitte erzählen Sie niemandem davon, dass ich heute meine Medikamente nicht eingenommen habe. Würden Sie das für mich tun? Erzählen Sie bitte meiner Tutorin nichts davon und auch meinen Eltern nicht, ja?« Welche Medikamente? Wieder konnte Rebecca nur nicken, ohne den tieferen Sinn hinter seinen Worten zu begreifen.
»Warum hast du die Tabletten weggelassen? Darfst du das?«
Er schüttelte energisch den Kopf. »Nein! Wenn ich sie vergesse, dann erlebe ich ein Gefühlschaos nach dem anderen. Aber heute … Irgendeine innere Stimme hat mir gesagt, dass ich sie weglassen soll und da habe ich …«
»Ist gut«, fiel sie ihm ins Wort. »Ich verspreche dir, mit niemandem darüber zu reden.«
Ihre Worte mussten eine Erleichterung für ihn gewesen sein, denn wieder umarmte er Rebecca, diesmal weniger zärtlich; vielmehr erfüllt von dem Gedanken, dass da jemand war, der ihm zuhörte und der ihn verstand.
Als er sie losließ, sagte er: »Wenn rauskommt, dass ich die Tabletten nicht nehme, muss ich wieder bei meinen Eltern einziehen und das möchte ich auf gar keinen Fall, verstehen Sie?« Ihr knappes Lächeln reichte ihm. »Ich danke Ihnen Frau Peters. Sie sind ein guter Mensch.«
Obwohl es Rebecca nicht durfte, sagte sie aus dem Bauch heraus: »Geh nach Hause, egal welche Stunden du heute noch hast.«
»Danke«, antwortete er leise, bevor er mit Tränen im Gesicht das Klassenzimmer verließ. Vor dem Rausgehen lächelte er sie noch einmal sanft an.
Rebecca fragte sich, wie sie die chaotischen Gefühle in ihrem Inneren verarbeiten sollte – zumal nach dem Gespräch mit Lou heute. Mit Paul konnte sie nicht sprechen, da er jedem ernsthaften Dialog aus dem Weg ging – sogar, wenn es ihre Beziehung betraf. Lydia mit ihren Sorgen behelligen? Das wollte sie nicht. Schließlich hatte ihre Freundin genug mit ihrer Ehe zu tun. Rebecca musste ein besserer Weg einfallen, mit ihren Problemen, die sie beruflich und privat belasteten, umzugehen.
Zu Hause angekommen, sinnierend in ihrem Arbeitszimmer sitzend, holte sie ein vergilbtes Papier aus dem Rollcontainer ihres Schreibtischs heraus und schrieb:
Dienstag, den 8. März
Lieber Paul,
fragst du dich nicht, welchen Sinn unsere Beziehung noch hat? Bist du wirklich so naiv zu glauben, dass wir eine Zukunft haben? Ich habe dich geliebt. Aber das ist schon lange her. Die Liebe erkaltete, als du immer schweigsamer wurdest. Als du dich nur noch um das Haus gekümmert und mich vernachlässigt hast. Ich war und bin dir nicht mehr wichtig. Unsere Beziehung ist eine Farce. Ein Zusammenleben zweier Menschen, die sich nichts mehr zu sagen haben.
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