Sie wünschte sich zurück nach Hause. Dorthin, wo sie hingehörte. Maya atmete einmal tief durch und zwang sich dazu, einen ruhigen Gedanken zu fassen. Vielleicht träumte sie das Alles nur. Vielleicht war es gar nicht die Realität, die sie hier erfuhr. Wie sonst konnte man an einem hellen Tag in einen See steigen und bei Nacht aus einem Meer herauskommen?
Auf einmal legte sich eine schwere Hand auf ihre Schulter. Mayas Herz machte einen Satz. Hinter sich hörte sie ein tiefes Brummen. »Wen haben wir denn da?«
Schlagartig fuhr sie herum.
*
»Ach komm, mach der Kleinen keine Angst«, beschwerte sich jemand hinter dem Typen, den sie trotz der anbrechenden Dunkelheit als recht stämmig und kräftig vor sich stehen sah. Weg war die Ruhe. Stattdessen machte sich ein unangenehmes Prickeln in ihrem Nacken breit. Ihr Herz donnerte ihr schmerzhaft gegen die Rippen, das Ziehen in ihrem Bauch nahm zu. Ihr ganzer Körper schrie vor Angst. Wer zum Teufel sind diese Typen? Reichte es denn nicht, dass sie keine Ahnung von dem Ort hier hatte? War sie jetzt auch noch Gefahr durch Fremde ausgesetzt?
Was sie wohl mit ihr anstellen würden … Sie war nur ein kleines Mädchen. Denn so hatte er sie genannt: klein. Doch genau den Eindruck durfte sie niemals vermitteln. Keinen dahergelaufenen Fremden, wenn sie die Gelegenheit hatte, sich zu verteidigen. Binnen einer Sekunde hatte sie einen Entschluss gefasst: Sie würde ihnen nicht die Genugtuung geben und ihre Angst zeigen.
Also schnaufte Maya demonstrativ. »Ich und klein ? Ich habe keine Angst. Und ihr steht mir im Weg.«
Sie machte Anstalten, an diesem Fels von Mann vorbei zu kommen, doch er hielt sie mit einer Hand zurück. Sie schielte an ihm vorbei und sah einen Jungen auf einem der größeren Steine sitzen. Er hatte die Beine ausgestreckt und kämmte sein Haar durch. Er erinnerte sie an einen Popstar, der es sich gut gehen ließ, und war ihr von Anfang an unsympathisch.
Trotzdem machte sie seine Anwesenheit nervös. Immerhin waren die Beiden zu zweit und sie allein.
Gleichzeitig kramte der andere Mann in seinen Taschen und richtete eine Lampe auf sie. »Zuerst müssen wir wissen, wer du bist.«
Ruckartig kniff Maya die Augen zusammen und legte so viel Wut in ihre Stimme, wie sie konnte. »Was spielt das für eine Rolle? Und halt gefälligst dieses Licht nicht in meine Augen!«
Tatsächlich gab der stämmige Mann nach. Nun wurde ihr Hals angestrahlt, aber ihr Gesicht konnte er bestimmt noch gut erkennen. Sie biss sich auf die Unterlippe, wie immer, wenn sie nervös war.
»Beantworte einfach die Frage. Nicht jeder läuft einfach aus dem Wasser heraus und wir haben dich auch nicht hineinlaufen sehen. Also, wer bist du?«
Das konnte nicht gut sein. Gar nicht gut. Sie wusste ja noch nicht mal selbst, wie sie hier her gekommen war … Und jetzt von zwielichtigen Typen ausgehorcht zu werden, die ihre Schritte überwachten, machte es nicht besser. Bestimmt träumte sie, hoffentlich träumte sie nur …
»Ich bin Maya. Und nun lasst mich durch, ich äh ...« Sie schaute hinunter zu ihren Schuhen, die sie in der Hand hielt. Wo sollte sie jetzt hin? »... muss nach Hause.«
Mit einem Mal rammte sie ihrem Gegenüber den Ellbogen in den Bauch und spurtete los. Der Bauch war nicht ganz so muskulös gewesen, wie sie vermutet hatte. Vielleicht hatte sie eine Chance und war schneller als dieser große Typ.
Hinter ihr knirschte der Sand und sie wusste, dass ihr jemand auf den Fersen war. Also rannte sie schneller, kam vom Strand runter auf eine schwach beleuchtete Straße und wollte gerade um die Ecke biegen, als …
Jemand packte sie am Arm. Da sie an den starken Mann gedacht hatte, verblüffte sie nun der Anblick ihres Verfolgers.
»Hast wohl noch nie so einen gutaussehenden Typen wie mich gesehen, oder?« Seine Zähne blitzten.
Natürlich, der Junge vom Felsen. Er war einen Kopf größer als sie und sein Haar schimmerte silbern im fahlen Licht der Straßenlaternen.
Rasch wandte sie den Blick ab. »Das glaubst du doch selbst nicht. Ich fasse es nicht, dass dein Kumpel und du nachts ein einsames Mädchen verfolgen.«
Er runzelte die Stirn. Hinter ihm konnte sie ein Schnaufen vernehmen. Der andere war also wirklich nicht so gut in Form. Zwar stark, aber auch ohne Kondition. Anders als der vor ihr. Leider.
Jetzt blieb ihr nur noch eins. Sie musste in die Offensive gehen, Fragen stellen, von sich ablenken. Vielleicht wollten sie ja wirklich nichts Böses von ihr, aber dass sie sie nicht gehen ließen, machte es nicht besser …
Sie schluckte die Panik hinunter und gab sich einen Ruck. »Jetzt beantworte mir doch mal die Frage, was ihr hier macht. Habt ihr gecampt? Auf etwas gewartet? Oder auf jemanden? Ich muss euch sehr enttäuschen, aber ich bin es jedenfalls nicht. Und -«
Aber die tiefe Stimme unterbrach sie. »Es tut mir leid.« Er ließ ihren Arm los. »Wir wollten dich nicht so erschrecken ...«
Erstaunt blinzelte sie. Meinte er das ernst? »Erschrecken? Ihr habt -«
»Und ich glaube, dass du wahrscheinlich wirklich aus dem Wasser gekommen bist, wie Ercan es gesagt hat. Du wirst keine Vorstellung davon haben, wo du bist.«
Mit einem Mal verrauchte ihre Wut. Sie schaute die verlassene Straße entlang. Ein Windstoß kam und brachte einen unangenehmen, jedoch wohlbekannten Geruch mit sich: Abgase, Metall, Staub. Auf einmal kam sie sich verloren vor. Verloren wie ein Kind. Die Erkenntnis traf sie mitten ins Gesicht. Sie war in einer Stadt gelandet, die sie nicht kannte und sie konnte nicht zurück.
»Wo sind wir?«
Sie konnte die Besorgnis in seinen Augen erkennen, aber da war noch etwas Anderes. Überlegenheit. Er wusste etwas, das sie nicht wusste. Und das gefiel ihr nicht.
»Wir sind in Kaltru. Und nicht in deiner Welt.«
Alexis
Der Gong hallte durch den Klassenraum. Niemanden schien es zu wundern, dass sich Alexis zwischen den Schülern befand und wie selbstverständlich am Unterricht teilnahm. Daran war ja auch nichts Ungewöhnliches.
Milans Blick traf sie nun schon das dritte Mal in dieser Stunde. Alexis hatte das registriert, langsam ging es ihr aber auf die Nerven und verwirrte sie. Schließlich war er einer der beliebtesten Schüler in ihrem Jahrgang. Er gab sich nicht mit Leuten wie ihr ab. Zwar war Alexis keine Außenseiterin, aber um zu den Beliebten zu gehören, hätte sie sich viel mehr in Schale werfen, angesagte Musik hören und sich den Mund über andere Leute zerreißen müssen. Darauf hatte sie dann doch keine Lust. Sollte Milan mal lieber in seiner Liga bleiben.
Da stupste ihre beste Freundin April sie an. Unter dem Tisch hielt sie ein Magazin, nein, eine Zeitung, die sie nun Alexis reichte, um ihr etwas zu zeigen. April war schon immer ziemlich klein gewesen und Alexis hatte nicht das Gefühl, dass sie noch viel wachsen würde. Ihre kurzen, roten Haare bildeten Stacheln und ihre Haut war gebräunt. Gerade im Unterricht vertrieb sie sich oft die Zeit mit irgendwelchen Zeitschriften. Die Stunden verstrichen einfach zu langsam.
»Das ist Maya Grant. Sie ist vor ein paar Tagen verschwunden«, erklärte April gerade aufgeregt und strich mit dem Daumen über das Bild des Mädchens.
Alexis bemerkte den Schatten von Traurigkeit, der sich in Mayas Blick gelegt hatte. Es war so ungewohnt, nun immer ihre Augen zu gebrauchen. Aber Bilder enthielten nicht die Energie der darauf befindlichen Personen und so war sie diesmal für ihre Sehkraft dankbar.
»Und sie kommt von hier? Wieso zeigst du mir das?«
April zeigte auf die Vermisstenanzeige darunter.
Wieder sah Alexis genauer hin. Ein Junge mit schokoladenbrauner Haut und genauso braunen Augen lächelte ihr entgegen.
»Das ist Kaja«, erklärte ihr April aufgeregt, während Alexis überrascht die Luft anhielt.
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