Sie öffnete die Augen. Direkt vor ihr lag ein See, ein paar Meter weiter führte eine Brücke über das Wasser. Panik schlug wie eine Welle über ihr zusammen und die eben gewonnene Ruhe verflog im Nu. Mayas Hände begannen zu zittern. Sie ballte sie zu Fäusten, um sie kontrollieren zu können. Gleichzeitig wich sie zurück, kämpfte mit ihrem Gleichgewicht.
Der See rief Erinnerungen wach. Ein Bild tauchte vor ihrem inneren Auge auf. Sie war mit Justus hierhergekommen und hatte sich dann geweigert, auch nur einen weiteren Schritt auf den See zu zugehen. Sie hatte die Brücke noch nicht einmal betreten wollen. Justus hatte das nicht verstanden.
Maya spürte eine leichte Berührung an ihrem Handgelenk. Überrascht sah sie nach unten und verschränkte ihre Finger mit seinen. Justus‘ grüne Augen schauten tief in ihre blauen, als wollten sie ihre Seele ergründen.
Sie schlenderten gelassen nebeneinander her, während er sie über das kommende Wochenende ausfragte.
»Und am Samstag, da bist du also zu Hause?«
»Ja, genau«, antwortete Maya. »Keine Ahnung, was ich da mache. Aber ehrlich gesagt finde ich es mal schön, frei zu haben und entspannen zu können.«
Sie musterte seine roten Haare, die wild von seinem Kopf abstanden. Sie kannte ihn erst seit ein paar Monaten, als Justus in ihre Klasse gekommen war. Er war schüchtern gewesen, aber Maya wusste, wie es sich anfühlte, wenn man niemanden kannte. Und so hatte sie ihm den Ort gezeigt, in dem sie lebten, bis sie sich schließlich immer öfter getroffen hatten. Sicher, Justus hatte nun auch andere Freunde. Aber aus irgendeinem Grund hatte ihre Freundschaft gehalten.
»Oder um mit einem Freund etwas zu unternehmen?« Er sah sie bei der Frage nicht an, aber Maya konnte bemerkte, wie er leicht errötete.
»Ja, zum Beispiel.« Sie grinste ihn an und blickte wieder gerade aus. Dann wurde ihr klar, wo sie sich befanden.
»Ist das ...?«
»Ja, der See von Loch Ness.« Er grinste über seinen eigenen Scherz, aber als Maya plötzlich stehen blieb, legte er seine Stirn in Falten. »Was ist los?«
»Ich kann nicht weitergehen.« Sie biss sich auf die Unterlippe, ließ seine Hand los und ballte sie in ihren Hosentaschen zu Fäusten. Ihre Stimme klang kalt, ihr Blick war in die Ferne gerichtet. Die Erinnerung zwängte sich in ihren Kopf und ließ sie erstarren.
»Wie, du kannst nicht weitergehen?«, fragte Justus entgeistert und vollkommen verständnislos.
»Ich kann es einfach nicht.«
»Schön, und wieso nicht?« Plötzlich war sein Tonfall harsch und fordernd geworden.
Wahrscheinlich war das auch ihm aufgefallen, denn er hängte noch ein mitfühlendes: »Maya, was ist los?« daran. Er versuchte, ihr beschützend eine Hand auf ihre Schulter zu legen, aber sie wich noch einmal zurück.
»Das Wasser«, antwortete sie schlicht und hielt den Blick starr auf die glitzernde Oberfläche gerichtet, damit Justus die Verletzlichkeit in ihren Augen nicht sehen konnte.
Ihr Freund seufzte leise und hob ratlos die Hände. »Das ... Wasser also ...«
Kurz blieb es still, dann erklang seine Stimme erneut. »Hey Maya, was ist mit diesem See? Willst du mir sagen, dass du Angst vor Wasser hast?«
Noch immer konnte sie den Blick nicht von dem Gewässer abwenden. Ihre Schultern begannen vor Anspannung zu schmerzen.
»Ja. Gewissermaßen.« Ihre Stimme zitterte.
»Aber dein Körper besteht aus mindestens achtzig Prozent aus Wasser. Vor Regen hast du doch auch keine Angst. Und trinken musst du ja auch irgendwie.«
»Das hier ist was anderes.«
»Was Anderes? Okay ... Komm, Maya, wir gehen nur über die Brücke, dann sind wir da. Das Wasser tut dir doch ni-«
Doch ehe er seinen Satz vollenden konnte, hatte sich Maya umgedreht und war in die entgegengesetzte Richtung losgerannt. »Es tut mir leid ... Ich muss hier weg.«
Sie wusste nicht, ob er sie verstanden hatte oder wie er sich fühlte, jetzt, da sie ihn einfach stehen gelassen hatte. Doch die Emotionen, die über sie hereinbrachen, schwemmten die Schuldgefühle weg. Sie musste fort. So weit weg wie nur möglich.
Und hier stand sie nun, ein paar Monate später. Wieder vor dem See, wieder voller Angst. Justus hatte ja nicht wissen können, was hier einst geschehen war. Sie war nicht mehr baden gegangen, seit es passiert war, zu tief saß die Angst, sie könne das gleiche Schicksal ereilen wie ihren Vater. Immer hatte das Wasser sie daran erinnert, was sie nicht rückgängig machen konnte.
Ihr Herz schlug schneller. Sie versuchte ruhig zu atmen. Die Stimmen drangen wieder zu ihr vor, flüsterten ihr Dinge zu, die sie nicht verstand. Unruhig, drängend.
Das Wasser vor ihr hätte ruhig wirken können, aber für Maya war es bedrohlich.
Trotzdem bewegte sie sich darauf zu, als zöge es sie an. Innerlich stemmte sie sich dagegen, leistete Widerstand. Ohne Erfolg. Immer weiter wurde sie gezogen. Was ging hier vor? Wieso hatte sie ihren Körper nicht mehr unter Kontrolle?
Bald berührten ihre Sneakers das Wasser. Maya spürte, wie es durch den Stoff sickerte, während sie immer weiter hineinging. Ihr Atem ging schwer, sie war noch immer panisch. Bald stand sie bis zu den Knien im Wasser.
Sie konnte nicht fassen, was hier geschah. Seit Jahren hatte sie sich nicht mal in die Nähe großer Wasserflächen gewagt und nun ging sie tiefer und tiefer in den See hinein, ohne es verhindern zu können. Ihr Gesicht glühte vor Anstrengung, ihre Fäuste waren schmerzhaft geballt, doch sie konnte sich dem Sog nicht widersetzen, der sie so fest im Griff hatte, dass es ihr wehtat. Sie wollte sich losreißen, gleichzeitig den Gefühlen entfliehen, die in ihr hochkamen und Erinnerungen mit sich brachten. Erinnerungen an ihren Vater, gegen die sie sich ebenso wehrte.
Vergeblich. Der Sog machte sie zu seiner Marionette, nahm ihr den Willen, der um sein Überleben kämpfte. Mit jedem Schritt bohrte sie die Fingernägel tiefer in die Handflächen hinein, bis sie nicht mehr konnte. Die Stimmen wurden leiser. Sie schienen zufrieden mit etwas zu sein. Maya schnappte nach Luft, ehe sie untertauchte.
Wie von selbst lösten sich ihre Fäuste. Entsetzt stellte sie fest, dass ihr Körper die Tiefe ansteuerte. Mayas Herz pochte rasend schnell, als wäre es das einzige, das sich ihr nicht widersetzte. Der Sauerstoff wurde knapp, sie musste Luft holen … Jetzt!
Ruckartig atmete sie ein … Und stellte fest, dass sie atmen konnte. Mit jedem Zug wurde ihr Herz ruhiger, ihr Kopf nebeliger. Wie in Trance glitt sie hinab, auf ein mächtiges Licht zu. Eine Stimme lullte sie ein, sagte ihr, wie sehr sie auf sie gewartet hatte. Maya kam dem Licht immer näher, wollte auf einmal so dringend zu ihm … Von Sehnsucht getrieben wollte sie die Hände nach ihm ausstrecken, doch sie gehorchten ihr noch immer nicht.
Und dann tauchte sie hindurch.
Der Nebel verschwand so schnell, wie er gekommen war. Das Wasser färbte sich dunkel, riss sie herum wie ein Spielball. Maya wollte schreien, aber es fehlte ihr plötzlich die Luft zum Atmen. So kräftig sie konnte, strampelte sie mit den Beinen und ruderte mit den Armen. Atemlos durchstieß sie die Wasseroberfläche und schnappte nach Luft. Sie schwamm hektisch auf das Ufer zu, das im Dunkeln lag. Erst als ihre Füße den warmen Sand berührten und sie tief ein- und ausatmen konnte, fiel die Anspannung von ihr ab. Erschöpft wischte sie sich die klebenden Haare aus dem Gesicht und sah sich um. Sie richtete sich wieder auf und blickte entgeistert auf das Meer, durch das sie gekommen war. Die Panik kehrte zurück, ballte sich in ihr zusammen und brachte ihren Puls auf Hochtouren. Wo zum Teufel war sie gelandet? Wo war der Wald hin und was war gerade mit ihr geschehen? Ein warnendes Ziehen machte sich in ihrer Magengegend bemerkbar. Die salzige Luft zerrte an ihr. Mächtige Wellen richteten sich drohend auf und peitschten gegen die angrenzenden Felsen. Die Finsternis, an die sich Mayas Augen schnell gewöhnt hatten, färbte alles in ein dunkles Blau.
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