„Willst du mit zu mir nach Hause kommen?“, fragte Stephen seinen neuen Freund.
„Was werden denn deine Eltern sagen, wenn du einfach einen Fremden mitbringst?“, fragte Eric zögerlich.
„Freunde sind uns immer willkommen. Außerdem habe ich keinen Vater mehr und Mutter hat bestimmt nichts dagegen.“ „ Eigentlich muss ich mich bei Sir Guy melden, wenn ich fertig bin.“, protestierte Eric schwach.
Wortlos nahm Stephen seine Hand. Mehr gezogen, als selbst gelaufen, folgte Eric. Sie gingen jetzt durch das dritte Tor und standen in einem weiteren Burghof. Hier gab es einen Brunnen und kleine Häuser reihten sich auf der rechten Seite aneinander. Vor ihm ragte die Hauptburg mit zwei Türmen auf. Eine breite Treppe führte nach oben in die große Halle. Stephen ging an der Treppe vorbei zu einem der kleinen Häuser. Ohne zu klopfen öffnete er die Tür und trat ein. Das Haus war sauber, es lagen frische Binsen auf dem Boden. Der Holztisch war geschliffen und glänzte matt im Kerzenlicht. Eric hatte selten ein so reinliches Haus wie dieses gesehen. Eine Frau stand an einem anderen Tisch und bereitete das Abendbrot zu.
Ohne aufzuschauen sagte sie:
„Stephen, wo hast du so lange gesteckt? Geh dich waschen und komm dann zum Essen.“
Ihre Stimme hatte einen wunderbaren Klang. Eric fühlte sich an die Stimme seiner Mutter erinnert, die ähnlich geklungen hatte. Trauer erfasste ihn.
„Mutter, ich habe einen Freund mitgebracht. Darf…“, begann Stephen zu sprechen. Bei dem Gehörten hob seine Mutter sofort den Kopf und Eric wurde von rehbraunen Augen eingehend gemustert. Für einen Moment runzelte sie die Stirn, doch dann wurde ihr bewusst, wie unhöflich sie sich verhielt: „Oh, entschuldige bitte. Ich heiße dich willkommen. Ich bin Ester.“
„Ich heiße Eric, Eric Eddings von Winterley.“
„Darf er bleiben, Mama? Er ist Olivers Mündel.“, hakte Stephen nach.
„Aber nur, wenn du dich jetzt sofort waschen gehst“, sagte seine Mutter mit gespielter Strenge. Stephen verschwand hinter einem Vorhang, der den Zugang zu einem anderen Raum verdeckte. Eric blickte ihm sehnsüchtig nach. Was gäbe er nicht alles dafür, sich waschen zu können. Ester verstand seinen Blick und bot ihm spontan an: „Wenn es dir nichts ausmacht, dich mit dem gleichen Wasser zu waschen, kannst du dich gerne etwas frisch machen.“
Früher hätte Eric die Nase gerümpft und eine hochnäsige Antwort gegeben. Aber jetzt war alles anders. Dankbar nahm er das Angebot an. Als Stephen herauskam, blieb ihm vor Fassungslosigkeit der Mund offen stehen. Der Junge war Oliver wie aus dem Gesicht geschnitten. Die gleichen schwarzen Haare und himmelblauen Augen, sogar das Grübchen im Kinn war da.
„Das gibt es doch nicht! Ist das…“, stammelte Eric. Ester half ihm aus der Verlegenheit:
„Es ist Olivers Halbbruder. Sir Otto ist sein Vater.“
Als wäre es das normalste der Welt hatte sie ihm gerade gesagt, dass Stephen ein Bastard war.
„Stellt das ein Problem für dich dar?“, fragte jetzt Stephen, der in Erics Gesicht genau gelesen hatte, was dieser gerade dachte. Eric räusperte sich und erwiderte dann aufrichtig:
„Früher hätte ich mit solchen Sachen ein Problem gehabt. Aber es hat sich vieles geändert und auch ich habe meine Meinung zu solchen Dingen überdacht. Es geht mich nichts an.“
Stephen atmete erleichtert auf, denn er wollte seinen neuen Freund nicht schon wieder verlieren.
„Dann geh dich waschen. Anschließend gibt es erstmal etwas Ordentliches zu essen.“
Das ließ sich Eric nicht zweimal sagen und verschwand hinter dem Vorhang. Er zog sein Hemd aus und tauchte seine Hände in die Schale. Das Wasser war noch warm. Er griff nach dem kleinen Stück Seife, das auf dem kleinen Tisch lag, und begann sich den Dreck von der Haut und aus den Haaren zu schrubben. Als er fertig war, nahm er das Handtuch und trocknete sich ab. Erneut rieb er sich die Oberschenkel mit der Salbe ein. Dabei fiel sein Blick auf den Boden. Ester hatte unter dem Vorhang frische Kleidung durchgeschoben. Er probierte sie an und stellte erstaunt fest, dass sie bis auf die Länge der Beinkleider passte. Das war ihm jedoch egal. Er fühlte sich frisch und sauber. Jetzt fehlen mir nur noch etwas Ordentliches zu essen und etwas Schlaf, dachte er bei sich. Verlegen trat er zu Ester und Stephen und bedankte sich für die Kleidung.
„Sie gehörten meinem älteren Sohn Roy, er ist vor zwei Jahren gestorben.“ Trauer schwang in Esters Stimme. Schon lag Eric die Frage auf der Zunge, ob Roy auch der Halbbruder von Oliver gewesen war, doch er verkniff sie sich.
Sie saßen am Tisch und aßen Brot, Käse und Wurst. Dazu tranken sie Wasser. Es war ein heiteres Beisammensein.
„Ich habe schon lange nicht mehr soviel gelacht, wie heute Abend. Dank deiner Witze, Stephen.“
Eric hielt sich noch immer den Bauch vor Lachen. Stephen grinste, doch er rieb sich mittlerweile ständig die Augen vor Müdigkeit.
„So, mein Sohn, Abmarsch ins Bett“, befahl seine Mutter, seinen Protest ignorierend.
Ester schob ihn in Richtung der Schlafkammer, gab ihm noch einen Gute-Nacht-Kuss und wartete einen Moment. Dann vergewisserte sie sich, ob er wirklich im Bett lag und kam dann zu Eric zurück.
Als sie sich wieder an den Tisch setzte, sah sie Eric geradewegs in die Augen. Sie hatte die tragische Geschichte der Familie Eddings gehört: Lady Diana und ihre Tochter Deria waren während der großen Fieberepidemie gestorben. So war es jedenfalls bekannt, doch als Ester den Eric Eddings vor sich genauer betrachtete, hatte dieser wenig Ähnlichkeit mit dem Jungen, der vor einigen Jahren zusammen mit Sir Robert auf der Bärenburg Rast gemacht hatte. Dieser Eric müsste jetzt schon kräftiger gebaut sein. Und markantere Gesichtszüge haben. Ohne Umschweife fragte Ester daher:
„Wie lange willst du diese Maskerade aufrechterhalten?“
Eric saß wie vom Donner gerührt da und wusste im ersten Moment nicht, wie Ester ihn so schnell durchschaut hatte. Ihm war sofort klar, was sie meinte, denn ihr Blick sprach Bände.
„Bis Oliver verheiratet ist. Dann bin ich frei!“, antwortete Deria genauso offen zurück.
„Das glaubst du doch nicht allen Ernstes?“, fragte Ester erstaunt.
„Wieso denn nicht?“, wollte jetzt das Mädchen wissen.
„Wenn du es ihm nicht sofort sagst, wird er es wahrscheinlich früher oder später herausfinden. Dann wird er furchtbar wütend auf dich sein und dich bestrafen.“
„Dann hau ich eben vorher ab. Er kann mir dann nichts mehr anhaben“, verteidigte sich Deria weiter, aber ihre Stimme klang schon nicht mehr ganz so zuversichtlich.
„Deria, er wird dir dann einen anderen Ehemann suchen. Du bist sein Mündel! Hast du diese Möglichkeit denn gar nicht in Betracht gezogen?“, fragte Ester weiter.
Die Erkenntnis, dass Ester sie sofort durchschaut hatte und die Aussicht, dass Oliver ihr womöglich einen Ehemann suchen würde, versetzte Deria in panische Angst. Sie schluckte schwer. Alles war umsonst gewesen. Zwei Jahre hatte sie geglaubt, die perfekte Lösung gefunden zu haben und dann hatte ihr Vater alles zunichte gemacht. Jetzt liefen die Tränen in ihrem Gesicht hinunter.
„Ich weigere mich jemanden zu heiraten, der mich nicht liebt und den ich nicht liebe!“, schrie Deria und sah Ester trotzig an.
„Ach Deria, ich versteh dich ja. Aber wir Frauen müssen gehorchen. Du musst es Oliver sagen, bevor es zu spät ist.“
Tröstend legte Ester ihre Hand auf Derias.
„Das kann ich nicht, Ester. Er wird mich umbringen.“
„Das Beste ist, du schläfst erst einmal darüber. Morgen wirst du klarer sehen. Ich werde keinem Menschen etwas sagen. Aber sei auf der Hut. So wie ich wird der ein oder andere in dir ebenfalls mehr sehen, und das schneller als dir lieb ist. Komm, du kannst in Roys Bett schlafen.“
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