Der Professor sah zu Harald hinüber.
»Er hat mich oft beeindruckt. Auch mir wird er fehlen.«
Danach blickte er in die verweinten Augen Chantals.
»Haben Sie miteinander gesprochen, wie es jetzt weitergehen soll?«
Ein Lächeln huschte über Chantals Gesicht.
»Sie haben es ja selbst gesagt Herr Professor. Harald war nicht nur Geschäftsmann. Er war mitunter auch höchst kreativ und einfühlsam. Wir waren vor drei Wochen bei einem Bestattungsinstitut.«
Sie machte eine kurze Pause, um mit fester Stimme fortzufahren:
»Nachher wird er abgeholt, und nach Slangenburg in den Niederlanden gebracht.«
»Oh. Davon habe ich schon gehört. Ist das nicht ein bisschen kompliziert?«
Der Professor war sichtlich überrascht.
»Eigentlich nicht. Ich muss nur vier Wochen warten, bis ich die Urne abholen kann.« Chantal blickte zu Harald hinüber.
»Dann habe ich ihn immer in meiner unmittelbaren Nähe. Er selbst hat sich einen schönen Platz ausgesucht. Ja. So war er. Er überließ nur sehr wenig dem Zufall.«
Professor Kubischek starrte Chantal an.
Diese entdeckte in dessen Augen höchstes Erstaunen.
Mit Sicherheit wusste er inzwischen, welche schillernde Persönlichkeit vor ihm saß. Alles hätte er diesen beiden höchst ungewöhnlichen Personen zugetraut – nur nicht eine solche romantische Geschichte. Er rang mit den Tränen.
Plötzlich griff er hastig nach der kleinen Mappe, um sie zu öffnen.
»Ich habe die Scheine bereits ausgefüllt«, sagte er halblaut, während er seine Unterschrift unter zwei Formulare setzte.
Er vermied das Wort „Totenschein“. Ohne hochzublicken, sagte er: »Als Zeitpunkt habe ich acht Uhr heute Morgen eingesetzt.«
Er blickte Chantal fragend an.
»Ist das in Ihrem Sinne Madame Chantal?«
Es war das erste Mal, seit sie sich kannten, dass er sie so nannte.
Chantal nickte einige Male schweigend.
»So. Diesen Schein übergeben sie nachher dem Beerdigungs-Institut. Und den hier …«
»Ich weiß Herr Professor. Harald hat mich genau instruiert.«
»Was nicht anders zu erwarten war«, brummelte der Professor, während er seinen Arztkoffer schloss, und ruckartig aufstand. Für einige Sekunden stand er vor Chantal. Er blickte ihr in die Augen. Der Professor hatte dunkelbraune Augen, die nun die Frau im schwarzen Kleid und den langen schwarzen Haaren fixierten. Er schien nachzudenken, ob er diese Frau erneut in den Arm nehmen sollte oder ihr lediglich die Hand zu reichen. Er entschied sich für die Umarmung, und sagte anschließend:
»Wenn das hier alles vorbei ist, trinken wir dann einmal eine Tasse Kaffee zusammen?«
Chantal lächelte in sich hinein.
»Diese Frage kam eindeutig nicht von einem Professor, sondern von einem Mann; von Rolf Kubischek.«
»Ich habe ja Ihre Adresse Herr Professor«, antwortete Chantal mit ihrer dunklen Stimme.
»Es würde mich traurig machen, wenn wir uns aus den Augen verlieren sollten«, sagte Rolf Kubischek, während der die Villa verließ. Chantal nahm sich in dieser Sekunde vor, diesen Mann anzurufen. Später. Irgendwann.
Das Leben musste weitergehen. Und es ging auch weiter.
Der Tod von Harald Lambers sprach sich schnell herum. Chantal beugte eventuellen Anfragen vor, indem in einer Todesanzeige stand:
»Die Beerdigung findet im allerengsten Familienkreis statt. Von Beileidsbekundungen jeglicher Art bitten wir Abstand zu nehmen.«
Natürlich standen Iris und Manuela ihrer Freundin bei. Sie respektierten jedoch, dass Chantal nach Haralds Tod einige Tage der Ruhe und inneren Einkehr brauchte.
Niemals hätte Chantal sich vorstellen können, dass ihr ein Mensch so fehlen würde. Sie saß nun allein in dieser riesigen Villa, und versuchte ihr Leben zu ordnen.
War es ein Fehler gewesen, Harald nicht zu heiraten? Genau genommen spielte diese Frage nun ohnehin keine Rolle mehr. Unabhängig davon hatte sie sich eben diese Frage zuvor oft genug gestellt – und beantwortet. Nein. Harald war mit diesem Leben zufrieden gewesen. Das hatte er kurz vor seinem Tod noch einmal betont.
Aber nun fehlte er ihr. Unsäglich.
Vor allem an den Abenden saß sie allein vor dem Kamin. Die Musik stellte sie lauter als sonst. Und sie trank auch mehr Rotwein als sonst. In den ersten Nächten schlief sie auf dem Fell vor dem Kamin ein. Nein. Auf die Couch wollte sie sich nicht legen. Dort sah sie noch immer Harald liegen. Und das große Doppelbett da oben? Das war urplötzlich riesig – und leer. In ihre Wohnung im 22. Stock wollte sie auch nicht. Das hätte sie als Verrat an Harald empfunden.
Und plötzlich ging alles schnell. Kosten spielten keine Rolle. Innerhalb von drei Tagen ließ sie Isoldes Schlafzimmer räumen, tapezieren und neu einrichten. Der Verkäufer des Möbelhauses hatte sie zunächst völlig entsetzt angeschaut. Doch nachdem sie ihm zwei Fünfhundert-Euro-Scheine in die Hand gedrückt hatte, ließ er große Wunder Wirklichkeit werden.
Wie würde es jetzt weitergehen? Sie wollte sich in Arbeit ersäufen. Aber welche Arbeit? Termine wahrnehmen? Niemals. In das Unternehmen gehen? Nein. Dort würde sie erst wieder auftauchen … nach der Testamentseröffnung.
Viele Tage später lag sie lange wach, um über dieses Thema nachzudenken. Harald hatte nie darüber gesprochen, wie es weitergehen würde – nach seinem Tod. Einmal hatte er eher beiläufig erwähnt:
»Ich habe doch nur dich. Du bist mein Alles. Du bist eine starke Frau. Du ersetzt viele Männer. Daran habe ich nicht den geringsten Zweifel.«
So war Harald. Unendlich oft hatte er Themen indirekt und verklausuliert angesprochen. Oder gar Parabeln benutzt. Wie auch immer. Jetzt galt es abzuwarten – auf die Testamentseröffnung und auf die Urne.
Nach zwei Wochen wurde die Villa für Chantal immer stiller und erdrückender. Sich totsaufen war keine Option. Deshalb lud sie Iris und Manuela ein – in die Villa.
»Ach du Scheiße«, schrie Manuela beeindruckt, als Chantal sie durch die Villa führte.
»Wird dir das jetzt nicht ein bisschen eng in deinem Wochenendhaus?«
Die Freundinnen blieben selbstverständlich über Nacht. Kichernd lagen sie spät in der Nacht zu dritt im neuen Doppelbett.
»He. Das würde deinem Harald gefallen«, quietschte Iris.
Zuvor hatten Iris und Manuela ihre Freundin unterhalten, versucht abzulenken und sie in diese andere Welt entführt. War das noch ihre Welt? Würde sie wieder in diese Welt zurückkehren? Konnte sie das? Durfte sie das? Die Zeit würde es zeigen!
Manuela war es extrem wichtig gewesen, ihrer Freundin einen lieben Gruß von Miranda auszurichten.
»Sie hat geweint, als sie das mit Harald gehört hat«, lispelte Manuela weinschwer.
Chantal blickte ihre Freundin giftig an.
»Du dumme Pute. Warum konntest du dein Maul nicht halten.«
»Sie hat immer nach dir gefragt. Und du hast sie ja nie zurückgerufen«, jammerte die Lesbe.
»Sie hängt quer in den Seilen. Ich glaube, dass sie gravierende Probleme in ihrem Job hat. Bislang schwebte sie ja irgendwo ganz weit oben.«
Zwei Tage später saß Ferdinand, der Detektiv, im Salon der Villa.
»Madame Chantal. Sie sehen mich tief beeindruckt«, hauchte der sonst so quirlige und extravertierte Mann.
Der Nachmittag ging fließend in einen langen Abend über.
»Dieser Geschäftsführer, dieser Klaus Kunzmann, ist ein riesengroßes Schwein«, hatte Ferdinand mit seinen Ausführungen begonnen.
Und anschließend berichtete er von geldgierigen Verschwörern. Marlon Larousse aus Lyon und der Geschäftsführer von HARLAM-CHEM arbeiteten an einem großen Plan. Zwischendurch wurden Gelder verschoben. Hierbei war der Finanzvorstand Eduard Zischler nicht unbeteiligt. Larousse ließ inzwischen fast alle Produkte bei HALAM-CHEM produzieren, um die Umweltauflagen in Frankreich zu umgehen. Der Franzose bekam die Produkte fast geschenkt. Kunzmann und Zischler strichen sich die Hälfte der Gewinne ein.
Читать дальше