Als er weiterging, hörte er plötzlich wieder ein Geräusch hinter sich. Indiana zwang sich, ganz ruhig einen weiteren Schritt zu machen — und fuhr ansatzlos und blitzartig herum.
Ein verzerrter Schatten bewegte sich durch den Nebel auf ihn zu. Riesig, taumelnd und beinahe lautlos näherte er sich ihm, ein monströses Etwas, das im selben Moment aufgetaucht war, in dem er die unsichtbare Grenze zwischen dem Land der Menschen und dem der Götter überschritt. Vielleicht hatte er sich in dem alten Indio doch getäuscht. Vielleicht hätte er seine Warnung ernster nehmen sollen, als er es tat. Aber zumindest würde er gleich herausfinden, ob die unheimlichen Indios wirklich so stark waren wie sie aussahen.
Der Schatten näherte sich schnell und mit fast grotesk aussehenden, torkelnden Bewegungen. Indiana wich einen halben Schritt zurück, spannte sich — und warf sich mit weit ausgebreiteten Armen nach vom.
Die Gestalt registrierte seinen Angriff und versuchte darauf zu reagieren, aber ihre Bewegung kam zu spät. Ungeschickt versuchte sie, zur Seite auszuweichen und zugleich nach Indiana zu schlagen, aber der warf sich mitten im Sprung herum, duckte sich unter einem Fausthieb weg und riß den Mann durch die pure Wucht seines Anpralls von den Füßen. Ein gequälter Schrei erscholl, als sie aneinandergeklammert auf den mit scharfkantiger Lava übersäten Boden prallten und ein Stück weit davonrollten. Scharfe Fingernägel kratzten über Indianas Gesicht, und ein Knie stieß zwei- oder dreimal hintereinander in seinen Leib, so daß er fast hören konnte, wie seine Rippen ächzten. Dann hatte er sich herumgeworfen und den anderen unter sich, preßte ihn mit der linken Hand auf den Boden und hob die andere zu einem Fausthieb.
«Indiana! Um Gottes willen — nein!«
Indianas erhobene Faust erstarrte in ihrer Bewegung, während er verblüfft in Marcus Brodys schreckensbleiches Gesicht hinabsah. Marcus’ Augen schienen vor Entsetzen fast aus den Höhlen zu quellen, und sein Gesicht war so weiß wie das eines Toten.
«Marcus …«, murmelte Indiana verwirrt.»Was um alles in der Welt tust du hier?«
«Das … das sage ich dir, wenn du … von mir heruntersteigst«, keuchte Marcus.
Indiana nagelte ihn mit seinem Gewicht an den Boden, so daß er Mühe hatte, überhaupt zu atmen, geschweige denn zu reden.
Hastig stand Indiana auf, blickte noch eine halbe Sekunde lang völlig verstört auf seinen Freund hinab und beeilte sich dann, die Arme auszustrecken, um ihm auf die Füße zu helfen. Marcus nahm seine Hilfe an, ließ aber dann seine Hände los und entfernte sich hastig einen Schritt weit von ihm. Mit zusammengebissenen Zähnen und schmerzverzerrtem Gesicht begann er, seinen Körper abzutasten, als müsse er sich davon überzeugen, daß noch alles an seinem angestammten Fleck und unbeschädigt war. Dabei sah er Indiana immer wieder vorwurfsvoll an, sagte aber kein Wort mehr.
«Was tust du hier?«wiederholte Indiana.»Warum bist du mir nachgekommen?«
«Jedenfalls nicht, um mich verprügeln zu lassen«, antwortete Marcus. Der Vorwurf in seinem Blick vertiefte sich.»Du hast manchmal eine sonderbare Art, deine Freunde zu behandeln, Indiana.«
Indiana wischte seine Worte mit einer ärgerlichen Bewegung beiseite.»Bist du wahnsinnig?«fragte er.»Hast du nicht gehört, was der Indianer gesagt hat? Sie werden uns nicht zurückkehren lassen.«
Brody zog eine Grimasse.»Ich denke ja nicht daran, mit diesen unzivilisierten Wilden allein durch den Dschungel zu laufen«, antwortete er.»Außerdem wirst du meine Hilfe brauchen.«
«Hilfe?!«ächzte Indiana. Er gestikulierte wild in den Nebel hinein.»Verdammt, ich weiß nicht einmal, was dort unten auf mich wartet. Verschwinde, Marcus, solange du es noch kannst. Vielleicht lassen sie dich noch gehen.«
«Und du glaubst, ich sehe zu, wie du mit offenen Augen in dein Verderben rennst?«erwiderte Marcus. Er schüttelte heftig den Kopf.»Nichts da, mein Freund. «Plötzlich grinste er.»Außerdem denke ich ja gar nicht daran, dir allein den Ruhm zu überlassen, El Dorado gefunden zu haben.«
«Das ist nicht komisch«, sagte Indiana ernst.»Ich weiß nicht, ob es dir aufgefallen ist, Marcus — aber wir sind nicht allein. Irgendwo hinter uns sind ein paar dieser Indianer — «
«Ich habe drei gezählt«, sagte Marcus.»Aber ich denke, es sind mehr. Ramos und seine Spießgesellen werden eine böse Überraschung erleben, wenn sie versuchen, auf dem gleichen Weg zurückzukehren.«
«Nicht nur sie«, sagte Indiana.»Ich beschwöre dich, Marcus!«
Marcus Brody sah ihn an, lächelte und schüttelte wieder den Kopf.»Nichts da«, sagte er.»Ich begleite dich. Weißt du, Indiana — ich hatte eine Menge Zeit nachzudenken, während ich bei den Indianern war. Ich glaube, ich kann dir helfen, wenn du einverstanden bist.«
«Du weißt, warum ich hier bin?«
«Wegen Marian Corda«, antwortete Brody. Er seufzte.»Du hättest dir und mir eine Menge Ärger ersparen können, wenn du gleich auf mich gehört hättest. Ich habe schon in diesem Lagerhaus in New York gemerkt, daß sie in Wahrheit auf Ra-mos’ Seite stand.«
«Und was soll ich tun?«erwiderte Indiana.»Die Hände in den Schoß legen und in aller Seelenruhe darauf warten, daß sie stirbt?«
«Bist du in sie verliebt?«fragte Marcus plötzlich.
Indiana antwortete nicht gleich.»Ich weiß es wirklich nicht«, gestand er schließlich.»Auf jeden Fall ist sie mir nicht gleichgültig. Und ich glaube, ich kann es schaffen.«
«Dann sollten wir nicht noch mehr Zeit vertrödeln, sondern lieber versuchen, sie einzuholen«, sagte Marcus. Etwas ernster fügte er hinzu:»Und außerdem habe ich das gar nicht gute Gefühl, daß es besser für uns ist, wenn wir nicht zu lange an diesem Ort bleiben. Also komm.«
Indiana kam nicht mehr dazu, ihn abermals zurückzuhalten, denn Marcus drehte sich herum und ging so schnell in den Nebel hinein, daß es plötzlich Indiana war, der sich beeilen mußte, ihm zu folgen.
Gold.
Unter ihnen lag eine Welt aus Gold. El Dorado existierte. Es war keine Legende. Es existierte, und es lag unter ihnen, zum Greifen nah.
Zum zweiten Mal an diesem Tag hatte Indiana das Gefühl, in einem verrückten, irrealen Traum gefangen zu sein. Aber diesmal war der Grund dafür nicht der, daß etwas seine Gedanken beeinflußte. Es war das Bild, das sich ihm bot; ein Anblick, der gleichzeitig so bizarr erschreckend wie faszinierend war, daß sich der logische Teil von Indianas Denken einfach weigerte, ihn zu akzeptieren.
Eine gute halbe Stunde lang waren sie nebeneinander durch diesen unheimlichen Nebel gelaufen, der bald so dicht geworden war, daß Indiana nicht einmal mehr Marcus’ Gesicht hatte erkennen können, obwohl er kaum einen halben Meter von ihm entfernt war. Was sie während dieser Zeit gefunden hatten, hatte beinahe schon ausgereicht, Indiana an seinem Verstand zweifeln zu lassen. Dabei hätte es ihn warnen müssen. Und trotzdem traf Marcus und ihn der Anblick des Talkessels mit der Wucht eines körperlichen Hiebes.
Das Tal, das nichts anderes als der Krater eines erloschenen Vulkanes war, hatte einen Durchmesser von drei, vielleicht vier Meilen. Alles unter ihnen bestand aus Gold. Und es war nicht einfach nur eine Ansammlung von Goldklumpen und — brocken, es war ein gewaltiger, wuchernder Dschungel, ein winziger, aber perfekt nachgebildeter Ausschnitt einer schon vor Jahrhunderttausenden oder — millionen untergegangenen Welt, die akribisch bis ins letzte Detail aus dem gelben Edelmetall nachgebildet worden war. Es gab Büsche und Sträucher, Felsen und Bäume, Gräser und mannshohe Farngruppen, alles mit schier unglaublicher Präzision herausgearbeitet. Selbst der Boden, auf dem sie standen, bestand aus Gold.
Während sie sich durch den Nebel getastet hatten, war Indiana ein paarmal stehengeblieben und hatte das eine oder andere aufgehoben — eine Pflanze, ein winziges Tier, oder einfach nur einen Stein, der kein Stein war. Jeder einzelne Gegenstand, den Marcus und er betrachtet hatten, war seinem natürlichen Vorbild auf die gleiche, unvorstellbar genaue Art nachgebildet, nachempfunden wie die beiden Stücke aus Stanley Cordas Besitz, die er in New York gesehen hatte.
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