Die Küche hatte sich geleert. »Wir müssen weg!«, mahnte Henri. »Vielleicht sind einige der Köche entkommen und holen die Wachen herbei.« Sie entwichen durch eine schmale Luke. Vom Schloss her ertönte Geschrei. Offenbar vermutete man sie immer noch im Palais und durchsuchte alle Räume.
Draußen im Garten herrschte Stille. Sie eilten zu der kleinen Pforte und fanden sie unverschlossen. Die Pferde waren noch immer draußen angebunden und knabberten an dem jungen Grün, das über die Mauer ragte. Wenige Augenblicke später befanden sie sich auf der Straße zum Süden.
Sie ritten Tag und Nacht, gönnten nur ihren Pferden ab und zu eine kurze Rast, um sie zu tränken und zu füttern. Sie wagten nicht einmal, im Sattel zu schlafen, ohne dass einer von ihnen Wache hielt und die Straße beobachtete. Henri hatte vorgeschlagen, die Seine zu meiden und durch die Wälder bis nach Auxerre zu reiten. Sie waren überzeugt, dass Nicholas ihnen für eine Nacht Quartier geben würde, damit sie sich gefahrlos ausschlafen konnten.
Erst am dritten Tag sprachen sie darüber, dass es ihnen verwehrt geblieben war, ihr Gelöbnis zu erfüllen. »Ich schäme mich, dass es uns nicht gelungen ist, Philipp für seine Verbrechen zu bestrafen«, bekannte Henri. »Er hat den Tod verdient.«
Uthman klopfte auf seinen Gürtel, in dem er seine Damaszenerklinge stecken hatte. »Es wäre mir sehr hart gewesen, wenn einer von euch beiden ihm den Todesstoß versetzt hätte. Wie weit wart ihr denn mit der Auflösung des Rätsels?«
»Damit hatten wir uns Zeit genommen«, sagte Joshua. »Denn wir hofften auf deine Rückkehr.«
Uthman konnte trotz der Schmerzen seiner verbrannten Hände schon wieder lachen. »Da hättet ihr euch noch eine Weile gedulden müssen. Die Königin war gerade bei dem Buchstaben A angelangt und hatte Amor und Amour vorgeschlagen.«
»Das ist doch gar nicht so dumm«, gab Joshua sein Urteil ab.
Uthman lachte abermals. »Aber leider wollte sie den Einsatz dieses Buchstabens auch mit der praktischen Anwendung bekräftigen.«
»Soll das etwa heißen…?«, erkundigte sich Joshua ahnungsvoll.
Henri übernahm die Antwort. »Du kennst doch unseren allseits bei den Damen beliebten Uthman. Natürlich wollte sie von ihm beglückt werden.«
Joshua war empört. »Eine Königin? Eine Erbprinzessin aus adeligem Geblüt sollte sich in Grund und Boden schämen, einen fremden jungen Burschen zu verführen.«
Uthman wollte ihn mit einem Scherz ein wenig ärgern. »Eine Königin wäre für mich allemal eine neue Erfahrung gewesen. Aber leider hat Juliette uns erwischt und die Wachen gerufen.«
»Ach, so war das!«, rief Henri. »Eine eifersüchtige Frau hat unseren Plan vereitelt.«
»Sie hat mich, als mich die Wachen nicht erwischt hatten, sogar mit einem Messer bedroht. Aber ich habe sie, damit sie kein Unheil anrichten konnte, bewusstlos geschlagen. Vielleicht ist sie tot.«
»Was hast du mit dem armen verführten Ding gemacht?«, rief Joshua entsetzt. »Das hat sie nicht verdient.«
»Im menschlichen Leben geht nichts nach Verdienst«, behauptete Uthman. »Das beste Beispiel dafür ist König Philipp. Allah richtet, und wir sind nur seine Handlanger.«
»Aber da ihr gerade von dem sprecht, was einer verdient oder nicht, möchte ich auch etwas dazu sagen«, meldete sich Henri zu Wort. »Ich bin nämlich der Meinung, dass Uthman eine tüchtige Tracht Prügel verdient hat. Mit seinen Weibergeschichten hat er uns die ganze Misere eingebrockt.«
»Undankbar seid ihr beiden!«, rief Uthman mit gespielter Empörung. »Ohne mich wäret ihr doch überhaupt nicht bis zu Philipp vorgedrungen. Die Vorbereitung bei Juliette hat mich viel Mühe gekostet.«
»Wenn du jetzt nicht sogleich still bist, wird dich das nicht nur eine Tracht Prügel, sondern sogar das Leben kosten«, mahnte Henri. »Denn unten am Seineufer reitet eine Schwadron Soldaten. Es sieht ganz so aus, als ob sie auf der Suche nach uns wären. Wenn sie uns erwischen, dann wird nicht Allah uns richten, sondern die königlichen Richter, die mit uns sehr kurzen Prozess machen werden.«
Im Schritt ritten sie auf dem weichen Waldboden weiter, damit das Geräusch der Hufe nicht unterhalb des Hügels am Ufer gehört werden konnte. Die Patrouille hatte jedoch scheinbar die Suche aufgegeben. Sie benutzten eine Furt, um auf dem jenseitigen Ufer nach Paris zurückzukehren.
Nach vielen Tagen und Nächten, die sie nicht mehr zählten und halb schlafend im Sattel verbrachten, erreichten sie endlich Auxerre.
»Wie seht Ihr denn aus?«, rief Nicholas entsetzt, als sie abgemagert und bleich in seine Töpferei taumelten.
»Das berichten wir dir morgen«, versprach Henri. »Für heute brauchen wir nur ein Stück Brot zum Essen und ein Lager zum Schlafen.«
Nicholas machte keine langen Worte. Er begleitete sie in sein Haus und stellte keine weiteren Fragen. Bevor Henri todmüde ins Bett fiel, sah er sich noch um. »Sind Sean und Guinivevre hier?«
Nicholas beruhigte ihn. »Sie kamen wohlbehalten hier an, in bei weitem besseren Zustand als ihr. Der Earl hat sie auf seine Burg geholt und seiner Tochter verboten, mit Sean nach Beaumont zu seiner Mutter weiterzureiten.«
»Daran hat er Recht getan«, murmelte Uthman schlaftrunken. »Sean ist noch viel zu jung, um mit diesen Weibergeschichten anzufangen, die doch nur Unglück bringen.«
»Er weiß, wovon er redet«, erklärte Henri, ehe er in tiefen, traumlosen Schlaf fiel.
Sie schliefen zwei Tage und zwei Nächte so lange, bis Nicholas sie an den Schultern rüttelte. »Aufwachen, ihr Helden! Oder wollt ihr euch für immer von dieser Welt verabschieden? Ich habe dem Earl of Annan von eurer Ankunft und dem erbärmlichen Zustand berichtet. Er hat euch für heute Abend zu einem festlichen Mahl geladen.«
»Ich glaube, dass mein Magen nach der letzten Fastenzeit die Nahrungsaufnahme verweigern wird«, fürchtete Joshua.
»Da fürchte ich eher das Gegenteil«, hielt Uthman dagegen. »Wahrscheinlich werde ich wie ein Wolf über die erlesenen Köstlichkeiten herfallen.«
»Ich wünsche nicht, dass wir bei dem Earl durch ein schlechtes Benehmen auffallen«, mahnte Henri. »Nehmt euch zusammen und zeigt euch dankbar! Vor allem du, Uthman, lass dir nicht einfallen, Guinivevre zu belästigen!«
»Wo denkst du hin!«, rief Uthman empört. »Frauen spielen in meinem Leben keine Rolle mehr.«
Der Earl of Annan erwies sich als vollendeter Gastgeber. Er hatte den Park durch Pechfackeln erleuchten lassen, sodass die zahlreichen Skulpturen scheinbar zum Leben erwachten. Die Tafel hatte er mit schottischem Geschirr decken lassen, das mit bunten Jagdszenen bemalt war. In den Karaffen funkelte französischer Rotwein. Sie saßen an diesem ersten lauen Frühlingsabend unter einer Pergola, die sie vor dem Wind schützte, der von der Loire herüberwehte. Guinivevre hatte einen Platz im Halbschatten gewählt. Ihr Gesicht wirkte verschlossen und düster.
Der Earl erhob sein Glas. »Ich trinke auf Eure gesunde Rückkehr, meine Herren. Sicher werdet Ihr nun in Eure Heimat zurückkehren wollen.« Er bemerkte wohl nicht, dass nach diesen Worten eine vollkommene Stille entstanden war. Denn er hatte begonnen, über die politische Situation in Frankreich und vor allem über die Schwierigkeiten in jenem Gebiet zu dozieren, das der englischen Krone unterstand.
Heimat, dachten seine drei Gäste, wo gab es die für sie?
Joshua kam in den Sinn, dass es ihm erging wie dem ewigen Wanderer Ahasver, der ein Jude war wie er. Ahasver aber war schuldig geworden, weil er Jesus von seiner Schwelle gejagt hatte, als dieser ihn auf dem Weg nach Golgatha gebeten hatte, ob er mit seinem schweren Kreuz vor seinem Hause ein wenig rasten dürfe. Geh weiter zu deinem Herrn!, hatte Ahasver gehöhnt. Jesus aber hatte geantwortet: Ich werde heimkehren in das Reich meines Vaters, du aber wirst ewig wandern müssen. Obwohl schuldlos, hatte auch Joshua dieses Schicksal getroffen. So deuteten die Christen die Heimatlosigkeit seines Volkes, obwohl doch alleine ihre Gesetze daran schuld waren.
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