Die alten Kelten kannten einen Gott oder Helden Cerunnos, der mächtige Hirschhörner besitzt. Eine ähnliche Gestalt wollte man auch für Osteuropa nachweisen: Ernst Krause bildete einen ganz ähnlichen Perkunas ab, der als Donner- und Blitzgott der Baltenstämme gilt.
Daß dem Hirsch etwas Göttliches innewohnt, finden wir auch in christlichen Legenden: Der heilige Hubertus oder der heilige Eustachius soll ein Tier getroffen haben, zwischen dessen mächtigen Hörnern er im Lichtglanz den gekreuzigten Christus selber erkannte. In der Überlieferung vom Thunersee soll der Herr Ptolomaios von Strettlingen, der ein großer antiker Weiser war, das gleiche Wunder erlebt haben. Solche und ähnliche Geschichten erzählten fromme Jäger in ganz Europa. Sie nahmen daraus ihre Überzeugung, daß Gott «durch alle seine Geschöpfe» zu wirken vermag. Selbstverständlich entstand dadurch der feste Glaube: Auch gegenüber den Tieren unserer Umgebung müssen wir stets Rücksicht zeigen, und wenn wir uns von ihnen ernähren, erst recht.
Die Engländer kennen teilweise den Wilden Jäger unter dem Namen Herne, «Herne the Hunter». Er soll gelegentlich ebenfalls mit einem Hirschkopf erscheinen. Forscher sehen hier eine Überlieferung aus dem Volk des großen Cerunnos und eine Erinnerung an die keltische Zeit. Es wurde mir erzählt, dieser «Wilde Jäger» sei weniger ein Sucher nach tierischer Beute sondern eher ein Beschützer aller Waldbewohner. Auch wenn Menschen vor ungerechten Herrschern in die Wildnis fliehen, bewahrt er sie vor den Verfolgern. So soll sich der Freiheitsheld Robin Hood seiner Freundschaft erfreut haben.
Es gibt heute in England recht viel weibliches und männliches Hexenvolk, das sich dem vorgeschichtlichen Naturglauben der Vorfahren zuwendet. Der Waldgeist mit dem Hirschhaupt erfreut sich unter ihm einer besonderen Beliebtheit. Wenn man von Herne Geschichten beim Einnachten erzählt, soll dies in uns den Willen und den Stolz der Unabhängigkeit erzeugen: «Herne liebt nur freie Menschen.»
Auch schickt er, wenn man ihn in seinen Wäldern anruft, Träume aus seinem grünen Reich. Man fühlt sich im Schlaf als Hirschbock oder Hirschkuh. Frei und von starken Muskeln getragen, bricht man durch das Gebüsch. Wie alle anderen Tierträume kann dies echten Genuß bereiten.
Selbstverständlich sind solche inneren Abenteuer nur nach entsprechender Vorbereitung möglich. Es wird empfohlen, in eine Gegend zu gehen, in der das Hirschvolk noch reich vertreten ist. Man wähle eine Jagdhütte inmitten des rauschenden Waldes. Man entzünde dann im Kamin echtes Waldholz; dies erzeugt wohlige Wärme und zauberhaftes Knistern, und schon nahen die Träume, die man im Häuserdschungel der Großstadt so entbehrt. Plötzlich ist man wieder im «lustigen Alten England» (merry Old England) der Kelten.
Von den Bourbonen-Königen von Frankreich wird erzählt, daß einige gerade in der edlen Hirschjagd die notwendige Entspannung suchten - und fanden. In einer Waldgegend, in der man Hirsche schützte und züchtete, soll auch der berühmte Hirschpark (parc aux cerfs) Ludwigs XV. entstanden sein.
Dieser ist bekanntlich von vielen Sagen umgeben. Angeblich hausten hier viele junge und schöne Damen aus allen Ständen. Der König soll sich diesen Platz voll lebender Nymphen erschaffen haben, weil sein ganzes Zeitalter dem einen verfallen war: Einer maßlosen und wahrscheinlich einseitigen Verehrung der Sinnlichkeit des Altertums.
Das 18. und 19. Jahrhundert berauschte sich an diesen dürftigen Nachrichten und verband sie mit eigenen Wunschvorstellungen. Über Tausend (!) junge Frauen sollen hier als eine Art Hirschkühe dem königlichen Haremsbesitzer gedient haben. Wenn man gewissen Schriften glaubt, sollen die Leidenschaften des königlichen Satyrs für seinen malerischen Lustpark die Finanzen seines Reiches zerrüttet haben: Jede der Damen (und wohl auch die standesgemäße Versorgung ihrer Nachkommen) soll gut eine Million Livres gekostet haben...
Die Franzosen selber haben viel Spaß an der ganzen, sicher sehr übertrieben dargestellten Geschichte. Viele sind in Scherz und Ernst überzeugt, daß ihre eigenen Ahnen «Hirschhörner» trugen. Solche Sagen haben zweifellos dazu beigetragen, der französischen Kultur viel Eigenart zu schenken: Viel Stolz, malerische Gesellschaftsformen und königlicher Umgang durchdrangen das ganze Volk. Der Glaube an den Stammbaum «vom königlichen Hirsch her» war noch in unserem Jahrhundert verbreitet. «Vielleicht ist jeder von uns Prinz oder Prinzessin», sagte man mir in Versailles.
Die Welt der griechisch-römischen Tiersagen wurde gerade damals nach ihren erotischen Seiten durchforscht. Irgendwie hoffte man, ähnlich wie im spätrömischen Reich, hier ein Mittel gegen den Verfall zu finden. In ursprünglichen Kulturen hofften zivilisationsmüde Menschen, die greisenhaft bleiche Perücken trugen, doch noch eine Quelle der Lebensfreude und Verjüngung zu finden.
Was die Nachfahren bewundern - Kunstgeschmack und Lebensstil - verschmolz damals zu einer Einheit. Iwan Bloch stellte dazu fest: «In den Gärten umarmte der bocksfüßige Pan schlanke weiße Nymphen an künstlichen Wasserfällen.» Selbstverständlich waren in dieser Umgebung auch die Hirschbilder sehr beliebt.
Zu den allerliebsten Geschichten der alten Griechen gehörten die vom maßlos wilden und gleichzeitig starken Stiermenschen Minotaurus: Er hauste im Irrgarten des Labyrinths von Kreta. Erst der Held Theseus vermochte ihn zu besiegen.
Die Gattin des Königs Minos soll sich mit einem Stier vergessen haben, den der unberechenbare Meergott Poseidon oder Neptun aus dem Meer emporsteigen ließ. Andere sahen die ganze Angelegenheit viel menschlich-verständlicher: Taurus, der Stier, sei ein schöner und sinnlicher Jüngling gewesen. Er verführte die für seine überdurchschnittlichen Gaben empfängliche Herrscherin. Der Sohn dieses Ehebruchs sei bei den Hirten im Gebirge erzogen worden. Unheimlich hätten sich in der freien Natur seine Körperkräfte entwickelt. Er wurde zu einem schier unüberwindlichen Räuber, der ganze Gegenden der Insel Kreta unbewohnbar werden ließ: Es war darum eine für die Entfaltung der späteren griechischen Kultur entscheidende Tat, ihn endlich zu besiegen.
Den Minotaurus hat man sich ganz verschieden vorgestellt. Einmal, wie wir ihn heute etwa von Picasso und anderen Künstlern kennen, als vollkommen gebauten Mann mit einem aufgesetzten Stierkopf. Dann wieder als eine Art «Rind-Kentaur», also mit dem unteren Körperteil eines Ochsen und dem vorderen eines Menschen. Machen wir nun einen kühnen Sprung von Kreta, Griechenland und Spanien nach Indien und Tibet, treffen wir auffällig ähnliche Gestalten: Der Stier Nandi, um den es eine Reihe von sehr verschiedenen Sagenkreisen gibt, ist das Reittier des Gottes Shiva.
Dieser gilt nun gleichzeitig als Gott der Zerstörung und der grenzenlosen Zeugungskraft. Es ist offensichtlich, daß auch sein Nandi ein Sinnbild der gleichen Eigenschaften ist. Im übrigen sehen wir ihn gelegentlich in Tempeln und auf volkstümlichen Bildern ganz ähnlich dem griechischen Minotaurus. Wiederum erscheint er hier als ein muskulöser Kraftmensch mit Stierkopf.
Ähnlich gestaltete Geschöpfe erscheinen in den europäischen, oft deutlich vom Orient her beeinflußten Zauberbüchern. Da ist zum Beispiel Moloch, der in der Bibel als ein Gott der morgenländischen Völker auftritt. Auch unter seinen Eigenschaften erkennen wir die Fähigkeit der Zerstörung von allem, was ihm im Wege steht. Daneben scheint er seinen Anhängern Zeugungskraft und Fruchtbarkeit geschenkt zu haben: Zumindest, wenn sie ihm reichlich opferten.
Gelehrte Verfasser, die die altjüdischen Überlieferungen zim Wegweiser nahmen, versuchten ein Bild dieses Moloch zu gewinnen: Seine Darstellungen sollen einen Riesen aus Metall gezeigt haben. Bei Festen habe man ihn mit Feuer erhitzt, damit er Wärme ausstrahle. Auch hier besaß er einen Stierkopf und gleichzeitig menschliche Gliedmaßen.
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