Der Reichtum der aufbewahrten Grundnahrung erlaubte vielen Ägyptern, sich vollamtlich der Bildung und der Kunst hinzugeben. Aufzeichnungen auf Papyrus-Blättern entstanden, in denen fleißige Priester Erfahrungen aus Naturwissenschaften und Geschichte niederschrieben. Unter dem griechischen Königsgeschlecht der Ptolomaier entstand daraus die Riesenbibliothek von Alexandrien. Auch da wäre es wohl nicht ohne die Wächter auf vier Pfötchen gegangen. Bis in die Gegenwart kennt man zwischen Europa und Japan die «Bibliotheks-Katzen». Sie retteten noch bei uns die alten Bücher vor der Gier des Mäusevolks: Verständlicherweise wurden sie dadurch zu so etwas wie Schutzengeln der überlieferten Bildung.
Auch unseren Müllern nördlich der Alpenkette wurde überdurchschnittliche Katzenfreundschaft nachgesagt. Waren sie tatsächlich, zusammen mit ihrem Lieblingstier, während des Sturms der Völkerwanderung von Süden und Osten eingewandert? Auf alle Fälle besitzen sie auch in den einheimischen Sagen viel Geheimnisvolles, Magisches, «Ägyptisches»: Sie mußten schließlich für ihre tägliche Arbeit viel Wasser und Luft haben. Dies zwang sie, abseits der menschlichen Siedlungen zu hausen. Sie entwickelten darum als Nachbarn der freien Natur eine für sie notwendige Wetterfühligkeit. Ich vernahm gerade aus der Ukraine, diesem Land der Windmühlen: «Wenn du den Umschwung des Wetters nicht gleich der Katze vorausfühlst, wirst du nie ein guter Müller.»
«Wer die Katzen besonders liebt und sie immer um sich hat, besitzt in seinem ganzen Wesen viel Kätzisches», auch das lehrte mich meine Großmutter. Solches gilt offensichtlich für alle Menschen unserer nahen Vergangenheit, die echte «KatzenBerufe» ausübten. Dazu gehörte nicht zuletzt gerade «das Volk, das sich um die Mühlen herumtrieb».
Da die Mühlen «für sich standen», waren sie seit jeher die Treffpunkte von ausgesprochen freiheitsliebendem Volk, namentlich der einheimischen Nomaden. Urs Hostettler, mit dem ich in den siebziger Jahren unserer «verfemten» Volksdichtung nachgehen durfte, faßt zusammen: «Solche erotischen Mühlenlieder findet man bei allen Völkern des Abendlandes. Vielerorts war die Mühle Freudenhaus und Schaubude zugleich. Da trafen sich die freien Mädchen, dubiose Gaukler und Spielleute.» Hier herrschte ein nächtliches Treiben, das das Volk «ewiges Katzentheater» nennt. Die Leute, die zum Mahlen des Korns zur Mühle kamen, genossen dort auch Unterhaltung: Geschichtenerzählen, Tanz und Musik.
In den erwähnten Liedern sind Müller und Müllerin Anhänger der freien Verbindungen zwischen den Geschlechtern: Sie ziehen auseinander, wenn Leidenschaft und Liebe unter ihnen erloschen ist. Die Frau singt, sie könne in der Mühle keinen Zwang ertragen: «Da draußen auf der grünen Heide, / Da bau ich mir eine eigne, / Wo's klare Wasser fließt / und mich kein Mensch verdrießt!»
Die Kunst, sich nächtens in Katzen zu verwandeln, schrieb man einst auch den Frauen auf dem «Bödeli» - das Land zwischen den beiden Alpenseen von Thun und Brienz — zu. Sie sollen besonders um die sagenhafte «Aar-Mühle» gewohnt haben. Zu ihren Versammlungen bei Vollmond zogen sie auf die recht einsame Alp Seefeld: Die schönen Müllerinnen, die sich in Katzen verwandeln, kommen in zahlreichen Sagen vor.
Die Behuften und Gehörnten
Die Kentauren, die starken Roßmenschen, haben die griechischen Künstler und Gelehrten besonders beschäftigt. Achilles, diese Verkörperung aller ursprünglichen Tugenden, wurde nach der Sage vom weisen Pferdemann Chiron erzogen und ausgebildet. Ist hier eine echte Erinnerung aus der Zeit früher Völkerwanderungen?
Aus den ältesten Schilderungen, besonders bei Homer, treten die Kentauren als ein echt wildes, «barbarisches» Urvolk hervor. Sie sind von menschlichen Leidenschaften erfüllt, leben sie auch ungezähmt maßlos aus - von den grenzenlosen Kräften der Tiere verstärkt. Die Männer dieser Rasse sind von gie riger Lust auf das weibliche Geschlecht getrieben und darum gefürchtete Frauenräuber. Unbestritten sind sie gewaltige Zecher, und ihre Festfreude ebbt erst dann ab, wenn sie im Zustand des Rausches die wirkliche Welt um sich vergessen.
Man fürchtet sie als mächtige Krieger, die auch die ganze Natur, etwa Felsbrocken oder Baumstämme, im Kampf einzusetzen wußten. Dies erschien vielen Kennern der griechischen Überlieferung als reines Märchen, doch die Gegenwart scheint uns eines Besseren zu belehren: Die Reiterstämme von Afghanistan wußten sich vor den modernsten Panzern der Sowjetunion in die unwirtlichen Heimatgebirge zurückzuziehen. Mit hinunterrollendem Gestein konnten sie häufig das Vorrücken eines Feindes aufhalten, der stumpf nur an seine Technik glaubte...
Im übrigen galten die Kentauren zusätzlich als vorbildlich im Handhaben von Pfeil und Bogen. Die alten Bilder der Astrologen zeigen uns das Sternbild des Schützen oft in der Gestalt eines mächtigen Kentauren: Man hat diesen oft als einen Helden dargestellt, der in eine Richtung galoppiert und gleichzeitig in die andere, also nach rückwärts, seinen Pfeil abschießt.
Auch dies erinnert uns an die gefürchtete Kriegskunst der eurasischen Reitervölker, die über die Weiten der Ukraine ins Herz von Europa vorstießen. Die Krieger der einheimischen Völker schössen im allgemeinen vom Boden aus. Waren sie beritten und wollten sie den Feind doch mit dem Bogen bekämpfen, stiegen sie in der Regel aus dem Sattel.
Die gefürchteten Nomaden des Ostens, die Tataren, Kumanen u. a. hatten aber eine andere Kunst erlernt. Nach einem ersten Angriff zogen sie sich meistens rasch zurück. Wurden sie nun verfolgt, so drehten sie sich auf dem Roßrücken nach hinten. Während ihre Pferde, jedem Schenkeldruck gehorsam, weiterbrausten, schössen sie rückwärts: Diese Kriegslist soll den wilden Steppenreitern viele Siege beschert haben.
Wie wir zusätzlich aus den Bildern des trojanischen Krieges und ähnlichen Darstellungen wissen, zogen die alten Griechen in ihren Schlachten ganz offensichtlich die Kampfwagen vor. Die Rosse führten das rasche Gefährt dem Gegner entgegen. Der Roßlenker mußte die Kunst beherrschen, seine Tiere so zu zügeln, daß der eigentliche Kämpfer stets einen einigermaßen sicheren Stand hatte: Das Kämpfen vom unsicheren Pferderücken her schien den Völkern der Hellenen eher barbarisch und unheimlich.
Die Sagen um ihre ewigen Jagden und Stammeskriege lie ßen all die Tataren und Kosaken nördlich des Schwarzen Meeres noch bis ins 18. Jahrhundert fast als Märchengestalten erscheinen! Sie wußten Knochenbrüche und die Folgen von Verwundungen meisterhaft zu heilen. Wir verstehen, daß sie schon aus diesem Grunde von den Gebildeten häufig mit dem großen Kentaurenarzt Chiron verglichen wurden.
Hatte im übrigen ein Kind in der Ukraine Ansätze zu OBeinen, tröstete man es mit dem Worten, es sei wohl «ein künftiger großer Reiter». Zum Spaß oder auch im Ernst vermutete man, daß sich eben unter seinen Vorfahren ganz sicher «wilde Tataren» befanden, deren Beine seit den ersten Lebensjahren krumm wuchsen: «Der Grund dafür war, daß man sie früher das Reiten lehrte als das Setzen der Füßchen auf den festen Erdboden.»
Der bedeutende Schriftsteller und einzigartige Kenner des Volkslebens Nikolai Ljesskow erzählt von ähnlichen Beobachtungen: Eine Held seiner Geschichte Der verzauberte Pilger schildert uns, wie den Tataren zufolge auch ein entstellter Körper den guten Reiter nicht behindern konnte, «...ein verstümmelter Mensch sitzt aber noch besser (!) als jeder andere auf dem Pferd. Er gewöhnt sich, ...die Beine rund zu biegen. Er kann also das Pferd damit wie mit einem Reifen umspannen, so daß er gar nicht abgeworfen werden kann.»
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