Seine deutsche Staatsbürgerschaft erreicht der vorbestrafte Staatenlose übrigens erst 1932 in einem dubiosen Hauruck-Verfahren: Der Innenminister des Freistaates Braunschweig Dietrich Klagges, neben Wilhelm Frick in Thüringen damals der einzige NSDAP-Landesinnenminister in Deutschland, ernennt den völlig unqualifizierten »Schriftsteller« kurzerhand zum Regierungsrat der Braunschweigischen Gesandtschaft in Berlin, mit dem diffusen Auftrag, die Braunschweiger Wirtschaftskontakte zu verbessern; einer Aufgabe, der Hitler natürlich keinen einzigen Tag nachkommt und die er auch schon einige Monate später wieder offiziell aufgibt, die ihn aber als Beamten zum deutschen Staatsbürger macht.
Die Biografie Adolf Hitlers zerfällt in zwei Teile, die so gegensätzlich verlaufen sind, wie es sich in der Rückschau kaum begreifen lässt. Er ist der Mann, von dem Historiker gesagt haben, dass erst der Erste Weltkrieg und seine Folgen ihn eigentlich gemacht hätten. Oder wie es der große Publizist Sebastian Haffner einmal geschrieben hat: Hitlers Fronterfahrung als Freiwilliger und Gefreiter im Ersten Weltkrieg war sein bestimmendes Bildungserlebnis, allerdings auch sein einziges.
Es ist der Mann, der vor 1919 weder durch besondere politische Ambitionen noch durch antijüdische Einstellungen, noch durch eine besondere Lust an Gewalt aufgefallen wäre - über fast die gesamte Zeit des Ersten Weltkriegs ist er Meldegänger, also ein Soldat, der sich durch feindliche Linien schleichen muss und dabei weniger schießt, als dass vielmehr auf ihn geschossen wird. Eher passiv, einzelgängerisch und abgesondert als aktiv und anführend. Es ist nicht überliefert, dass Hitler sich jemals geprügelt hätte oder im persönlichen Gegenüber einen Menschen geschlagen oder gar getötet hat. Es ist aber derselbe Mann, der nach 1920 einen Machthunger und rabiaten Politwillen entwickelt, für dessen Stärke es in der Geschichte wohl kaum eine Parallele gibt; der ohne jeden Skrupel die industrielle, massenhafte Ermordung der europäischen Juden initiiert, ebenso die Vernichtung Hunderttausender Oppositioneller, Homosexueller, Sinti und Roma, geistig und körperlich Behinderter in sogenannten Konzentrationslagern. Der Mann, der den Zweiten Weltkrieg mit seinen über sechzig Millionen Opfern auslöst und am 16. Juli 1941 seinen Generälen den ultimativen Befehl gibt, »alles auszurotten, was sich gegen uns stellt« und »jeden, der nur schief schaue, tot(zu)schießen«. Der an seinen Sieg nachweislich bereits 1943 selbst nicht mehr glaubte, aber dann noch zwei Jahre lang den Untergang der Welt inszenierte, inklusive der völligen Zerstörung wunderbarer Städte und bedeutender Kulturgüter. Derselbe Mann, der romantische Opern liebte, angeblich aus Respekt vor Tieren fleischlose Kost bevorzugte, nicht rauchte, nicht trank, sexuelle Ausschweifungen verabscheute und von dem seine Privatsekretärin Traudl Junge später zu Protokoll gegeben hat, dass in seiner Umgebung niemals Schnittblumen stehen durften, weil er »nichts Totes um sich haben wollte«.
Absurd und furchtbar war dieses Leben. Aber noch absurder und noch furchtbarer ist ein anderes Phänomen, über das nachzugrübeln wir wohl niemals fertig werden: Wie konnte es sein, dass Millionen von Menschen den Visionen und Befehlen dieses Mannes folgten?
37. Wer oder was sind wir?
Das Beste kommt zum Schluss, heißt es. Das wird auch bei uns so sein, im letzten Kapitel. Aber wir sind noch nicht fertig mit dem Absurden. Und schon gar nicht mit dem Furchtbaren. Dafür versprechen wir Ihnen anschließend - ganz individuell, ganz exklusiv -einen Raumflug ins All, um aus großer Entfernung auf die Erde zurückzublicken. Es gilt Distanz zu gewinnen, die Voraussetzung aller Erkenntnis.
Es war Georg Wilhelm Friedrich Hegel - Sie sind ihm bereits mehrfach begegnet -, der in der Vorrede zu seinen »Grundlinien der Philosophie des Rechts« (1821) die Mythologie und die Ornithologie zu Hilfe nahm, um in einem großartigen Bild zu verankern, dass Einsicht und Erkenntnis erst mit einem gewissen Abstand zu den Ereignissen möglich ist. »Die Eule der Minerva«, der Vogel der Einsicht und der Weisheit, so Hegel, beginne »erst mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug«, wenn die größte Sehschärfe zu erzielen sei. Das vergangene Jahrhundert, auf das noch einmal zurückzukommen ist, war so reich an Weltuntergangsszenarien, so gesättigt mit Düsterkeit und »Menschheitsdämmerung«, dass vielleicht auch hier Hoffnung auf Klarsicht gegeben ist, wenn wir entsprechende Distanz gewinnen.
Rufen wir uns deshalb die Bilder des 20. Jahrhunderts mit ihren himmelschreienden Absurditäten noch einmal ins Gedächtnis. Darunter auffallend viele deutsche Bilder.
Und wenn es ein besonders überraschendes Verdienst der neu erfundenen psychoanalytischen Forschung des Wiener Doktors Sigmund Freud gibt, dann doch dieses: dass Freud schon vor der großen Katastrophe des Zweiten Weltkriegs erkannt hat, wie gefährlich dünn der Boden der menschlichen Kultur ist, auf dem wir scheinbar so selbstsicher wandeln. Und dass unter dieser zivilisatorischen Eierschale die Bilder des Grauens und der triebhaften Niedrigkeit lauern, vor denen zu warnen und zu schützen man nicht müde werden darf.
Betreten wir also die Wohnung des von den Nazis aus Wien vertriebenen Sigmund Freud im Londoner Stadtteil Hampstead, Maresfield Gardens 20, heute ein Museum. Alles sieht noch genauso aus, als wäre der 1939 verstorbene Psychoanalytiker nur gerade mal eben außer Haus gegangen. Nutzen wir die Gelegenheit. Legen wir uns schnell mal auf seine berühmte Couch. Vielleicht gibt es keinen besseren Ort, um sich die Bilder wachzurufen, mit denen wir den Absurditäten und Widersprüchlichkeiten des gerade vergangenen Jahrhunderts nachspüren. Bilder, mit denen wir an die Hässlichkeit menschlicher Existenz rühren. Und immer wieder nach dem »Warum« oder dem tieferen Sinn unserer jüngsten Geschichte fragen müssen.
Ein pfauenartig herausgeputzter Kaiser und Senfgaswolken über den elenden Schützengräben von Verdun zum Beispiel. Oder: Die Druckmaschine während der Inflation von 1923, die kaum noch die vielen Nullen auf den Geldscheinen unterbringen kann. Die vermeintlich »Goldenen Zwanziger«, ein Jahrzehnt, in dem Hungerelend, politisches Chaos, Weltwirtschaftskrise, Demokratieverwirrung und Josephine Bakers Bananentanz zu einer merkwürdig beklemmenden Melange zusammenfließen. Der Expressionismus hat in kantiger Frechheit und provokativer Aufgekratztheit die schroffen Widersprüche dieser Epoche künstlerisch verschmolzen.
Und dann die Dokumentarbilder des sogenannten Dritten Reiches: Parteitags-Tableaus der Vermassung. Tausende von Menschen, degradiert zur geometrischen Figur: Der Einzelne ist nichts, die Volksgemeinschaft alles. Die »Herrenrasse« und der Judenstern - welch haarsträubender Zynismus steckt darin, wenn ausgerechnet eines der schönsten Symbole der Menschheit, der Stern, dazu dient, Menschen als unwert auszusondern? Die Industrialisierung des Mordens in den Konzentrationslagern, die schon am Eingang ihre Opfer mit dem Spruch verhöhnten: »Arbeit macht frei«, markiert den absoluten moralischen Tiefpunkt des 20. Jahrhunderts, der in der Weltgeschichte keine Parallele kennt.
Aber noch viele andere irritierende Fotografien gehen uns durch den Kopf, wenn wir gedanklich durch die Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts wandern: Hingemeuchelte Schwarzafrikaner, die wie Jagdtrophäen neben belgischen Soldaten aufgereiht liegen. Inder in pompösen englischen Uniformen und gleich daneben ein entsagungsvoller Prediger des Friedens, den ein religiöser Fanatiker ermorden wird: Mahatma Gandhi. Dokumentarbilder stalinistischer Schauprozesse in den Dreißigerjahren, in denen sich verdiente Kommunisten auf Befehl Stalins selbst als Staatsverbrecher bezichtigen müssen und für sich die Todesstrafe fordern. Der Horror des Archipels Gulag, der russischen Arbeitslager, wie ihn Alexander Solschenizyn oder zuletzt Herta Müller plastisch beschrieben haben. Fleischerhaken im Nazi-Gefängnis Berlin-Plötzensee, an die die Widerständler gegen Hitler gehängt wurden. Mittelalterlich verhüllte Ku-Klux-Klan-Fanatiker in den Südstaaten der USA, die Menschen ermorden, nur weil sie eine andere Hautfarbe haben. Eine Mauer mit Schießbefehl, die mitten durch Deutschland geht und angeblich dem Frieden dient. Atomraketen auf Kuba, die um ein Haar den atomaren Holocaust ausgelöst hätten. Sowjetische Panzer, die Prager Frühlingsträume überrollen. Ein schreiendes nacktes Kind aus Vietnam, das vor Napalm-Feuer flieht. Fanatische Steinzeit-Kommunisten, die Roten Khmer in Kambodscha, die jeden Brillenträger als Intellektuellen identifizieren und ihn deswegen sogleich auf offener Straße mit Kopfschuss töten. Maoistische Funktionäre, die begeistert die großen Traditionszeugnisse chinesischer Kultur zerschlagen und diese Revolution den »großen Sprung nach vorne« nennen. Süd- und mittelamerikanische Militärjuntas, die unliebsame Kritiker massenhaft in Folterkellern verschwinden lassen. Die einstige »Perle des Orients«, Beirut, in Trümmern. Blutige Konflikte zwischen Israelis und Palästinensern. Oder zwischen afrikanischen Hutus und Tutsis, die im vermeintlichen Musterland Ruanda plötzlich beginnen, sich gegenseitig mit Macheten die Köpfe abzuschlagen. Schwarze Südafrikaner, denen man brennende Autoreifen um den Hals gehängt hat. Taliban, die in Fußballstadien öffentlich »ungehorsame« Frauen hinrichten und Kunstschätze von welthistorischer Bedeutung in die Luft jagen. Hungernde Kinder in der sogenannten »Dritten Welt«. Notschreiende Gesichter, herausgegriffen aus der unvorstellbaren Masse jener zwei Milliarden Menschen, die auf unserer Welt noch nicht einmal Zugang zu sauberem Trinkwasser haben, obwohl doch weltweit täglich Lebensmittel für 14 Milliarden Menschen produziert werden. Riesige Bagger, die Gemüseberge der europäischen Agrar-Überproduktion zermalmen. Die Flugzeugtrümmerteile von Lockerbie. Im ehemaligen Jugoslawien »ethnische Säuberungen« - ein Wort, das allein deswegen die Menschheit beschämen müsste, weil es nach den Gräueln des Zweiten Weltkriegs überhaupt noch existiert und tatsächlich in den Mund genommen wird. Brennende, einstürzende Twin Towers in New York. Das geplünderte Museum von Bagdad. Humoristische Mohammed-Zeichnungen, die mit Mordaufrufen und blutigen Anschlägen quittiert werden. Radikale Islamisten, die als Selbstmordattentäter nicht nur in Bagdad oder Alexandria christliche Kirchen in die Luft jagen.
Читать дальше