Die ungelöste soziale Frage des Vierten Standes hatte zunächst in Frankreich die Februarrevolution von 1848 ausgelöst. Die Ideenlosigkeit einer rückwärtsgewandten Politik hatte Philosophen und intellektuelle Revolutionäre auf den Plan gerufen. In der allgemeinen Unzufriedenheit gelang der Schulterschluss zwischen Volk, Intelligenz und Bürgertum, und zum ersten Mal in der Geschichte saßen in Frankreich Sozialisten in der Regierung. Aber nur kurz. Denn nun wuchsen wieder die Spannungen zwischen Arbeitern und Bürgern, die Ordnung herbeisehnten und sich vor der »roten Gefahr« zu fürchten begannen. So kam es, dass man erneut Altbewährtes suchte. Und das hatte in Frankreich immer noch den gleichen Namen: Napoleon!
»Napoleon« klang in vielen Ohren immer noch wie das Qualitätsversprechen schlechthin. Louis-Napoléon, ein Neffe des Kaisers, nutzte die Gunst der Stunde und ließ sich zum Präsidenten der Zweiten Republik wählen. Beim Volk beliebt, gelang ihm 1851 der Staatsstreich: Zunächst riss er, mit Zustimmung des Volkes, die parlamentarische Macht an sich und mit dem Versprechen »Das Kaiserreich ist der Friede!« dann noch die Kaiserkrone. Frankreich war wieder da, wo es schon unter Napoleon I. war. Die Franzosen lebten seit 1853, nunmehr unter Napoleon III., wieder in einer vom Volk gestützten Diktatur.
Gleichwohl durchschüttelt das französische Aufbruchssignal von 1848 zunächst ganz Europa, zumal da der restaurative Ausgang der Geschichte anfangs noch nicht abzusehen ist. Europa stürzt in einen nationalen Revolutionstaumel: In Süddeutschland folgen viele Menschen schon wenige Tage nach der Februarrevolution dem französischen Vorbild. In Österreich muss Metternich, die verpönte Symbolfigur der Monarchie, im Schutz der Dunkelheit Wien verlassen. Der Vielvölkerstaat ist drauf und dran auseinanderzubrechen, weil auch Tschechen, Italiener, Ungarn ihr Nationalgefühl entdecken. In Preußen kommt es zu Barrikadenkämpfen, die den König Friedrich Wilhelm IV. zwingen, eine demokratische Verfassung zu versprechen. In Frankfurt, wo die schwarz-rotgoldene Fahne zur Bundesflagge erklärt wird, versammeln sich frei gewählte Liberale aus allen deutschen Gebieten, um in der Paulskirche über eine gesamtdeutsche Bundesverfassung zu beraten. Eine vorläufige Zentralregierung unter Leitung eines habsburgischen »Reichsverwesers« wird eingesetzt.
Das schwerwiegende Problem: Die großen Einzelstaaten scheren sich wenig um die Beschlüsse der verfassunggebenden Nationalversammlung. Und der preußische König lehnt die Kaiserkrone, die man ihm von Frankfurt aus andient, rundheraus ab. Für ihn, der aus innerer Überzeugung noch an das Gottesgnadentum seiner Herrschaft glaubt, sei eine Krone aus der Hand des Volkes »aus Dreck und Letten gebacken«, wie er schreibt. Als legitimer König von Preußen würde er sich beschmutzen mit einer Kaiserkrone, an der »der Ludergeruch der Revolution« klebe.
Damit ist die Revolution in Europa vorerst abgesagt. Die Scherben, die jetzt noch aufzusammeln sind, kehren Adel und Militär mit der Macht ihrer Waffen weg.
34. Freiheitsfackel im Sturm
Wenn Sie mit einem der großen Ozeanliner über den Atlan tik nach New York schippern und endlich in die Hudson Bay vor New York einbiegen, dann bekommen Sie eine gute Portion Frankreich zu sehen. Linker Hand erblicken Sie auf der kleinen Liberty-Insel 204 Tonnen Kupfer, die sich 93 Meter hoch in den Himmel recken: die Freiheitsstatue, die Frankreich 1886 der amerikanischen Nation als Sinnbild der Freiheit zum Geschenk machte.
Der französische Künstler Frédéric Bartholdi hat die Figur entworfen, und Gustave Eiffel, das Eiffelturm-Genie, zeichnet mit seiner eisernen Innenkonstruktion dafür verantwortlich, dass Miss Liberty’s Freiheitsfackel selbst bei kräftigem Sturm um nie mehr als acht Zentimeter hin- und herschwankt. Und wenn Sie jetzt vom Schiff aus noch lesen könnten, was auf der Bronzetafel zu Füßen der Statue eingraviert ist, dann würden Sie sich hier sehr willkommen fühlen: »Schickt sie mir, die Heimatlosen, vom Sturm Getriebenen, / Hoch halt ich mein Licht am goldenen Tore«.
Dabei war die Freiheitsstatue ursprünglich gar nicht dazu gedacht, Sie und andere Reisende so freundlich zu begrüßen. Wenn Sie genauer hinsehen würden, dann entdeckten Sie unter ihrem Fuß eine zerbrochene Kette, die die Überwindung der Sklaverei symbolisieren soll. Das war es eigentlich, was mit diesem Werk gewürdigt werden sollte: die Befreiung vom Joch der Sklaverei, die den Amerikanern 1865 mit dem Ende ihres Bürgerkriegs gelungen war.
Außerdem wollten die stolzen Franzosen mit diesem Geschenk daran erinnern, dass sie es doch eigentlich gewesen waren, die im 18. Jahrhundert den Unabhängigkeitskampf der dreizehn Ostküstenstaaten unterstützt hatten. Das stimmte zwar, war aber bei genauerer historischer Prüfung alles andere als eine selbstlose Tat gewesen. Frankreich war in den Siebzigerjahren des 18. Jahrhunderts ja noch ein absolutistisches Königreich und alles andere als republikanisch gesonnen. Die Hoffnungen der Franzosen richteten sich damals hauptsächlich darauf, dass im amerikanischen Freiheitskampf ihr Erzfeind England empfindlich geschwächt werden würde.
Insgeheim spielte dabei wohl auch das schlechte Gewissen eine gewichtige Rolle, denn es war noch nicht lange her, dass Kaiser Napoleon III. seine Soldaten nach Mexiko geschickt hatte, um dort eine Monarchie zu installieren. Der Übergriff war letztlich mit dem Ziel erfolgt, die monarchische Herrschaftsform auf dem amerikanischen Kontinent wieder hoffähig zu machen und Frankreich in Amerika wieder Fuß fassen zu lassen.
Das Unternehmen widersprach gleichwohl ganz und gar der sogenannten »Monroe-Doktrin« von 1823, in der US-Präsident James Monroe ein für alle Mal festgeschrieben hatte, dass jeder Einmischungsversuch der »Alten Welt«, wie Europa seit damals genannt wird, in gesamtamerikanische Belange abgewehrt werden würde.
Napoleons mexikanischer Statthalter Kaiser Maximilian I. blieb denn auch nur deswegen zunächst ungeschoren, weil die Franzosen geschickt die Gunst der Stunde genutzt hatten: Bis Mitte der Sechzigerjahre befand sich US-Amerika nämlich im Bürgerkrieg und konnte sich um das »Problem Mexiko« gar nicht kümmern. Doch mit Ende des Krieges 1865 forderten die USA sofort den Abzug der französischen Truppen, was unter diesem Druck dann auch geschah. Mit der Entmachtung und Hinrichtung Maximilians 1867 endete dieses Kapitel missglückter französischer Intervention reichlich dramatisch und bescherte Napoleon III. einen beträchtlichen Imageverlust. Als ihn dann vier Jahre später auch noch die Preußen im Verlauf des Deutsch-Französischen Krieges bei Sedan gefangen nahmen, war es mit seiner Kaiserherrlichkeit endgültig vorbei, und Frankreich entschied sich im September 1870, wieder Republik zu werden.
Insofern mag die Freiheitsstatue hauptsächlich eine Art Selbstvergewisserung der noch taufrischen Dritten Französischen Republik gewesen sein. Deren republikanische Liberté, Egalité und Fraternité standen in dieser unruhigen Zeit auf weit unsichereren Beinen als die gefestigte Republik der USA, zumal damals auf dem europäischen Kontinent außer San Marino und der Schweiz kein Staatswesen auf eine republikanische Verfassung setzte.
Der Krieg mit Preußen hatte nationale Leidenschaften geweckt, die in der Folge dazu führten, dass der schwelende Konflikt zwischen Bürgertum und Arbeiterschaft erneut mit großer Heftigkeit aufbrach. Der Aufstand der Kommune, einer von sozialistischen Arbeitern gewählten Pariser Gemeindevertretung, wurde von französischen Regierungstruppen blutig niedergerungen, wobei es mehr Tote gegeben haben soll als während der ganzen Französischen Revolution. In einer so chaotischen und unsicheren Situation war die Umarmungsgeste Frankreichs in Richtung Amerika doch eher so etwas wie der Versuch, durch Anbändelung mit gestandenen Republikanern sich selbst zu stärken.
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