Doch sein Stern ist gesunken. In der Welt, aber auch in Paris. Was ist ein Sieger, der nicht mehr siegt? Einer, der über Hunderttausende von Leichen geht? Die Gegner wittern Morgenluft. Zuerst ist es Preußen, das plötzlich mit Russland gegen Napoleon paktiert. Nach kurzer Atempause schließt sich Österreich an, Schweden und England sind auch dabei. Mit der dreitägigen Völkerschlacht bei Leipzig vom 16. bis 19. Oktober 1813 findet die Herrschaft Napoleons in Deutschland ihr Ende. Ein halbes Jahr später ziehen der russische Zar und der preußische König in Paris ein. Nach einem vergeblichen Selbstmordversuch dankt Napoleon am 6. April 1814 ab.
Unter dem österreichischen Kanzler Clemens Wenceslaus Lothar Fürst von Metternich (1773-1859) beginnt die Rückabwicklung, die Einebnung von zwanzig Jahren europäischer Geschichte. Ziel auf dem Wiener Kongress (1814/15) ist die Wiederherstellung der vorrevolutionären Verhältnisse. Die Siegermächte gehen dabei durchaus klug und behutsam vor. Denn Europas Machtgefüge ist so sensibel wie eine Apothekerwaage. Um Frankreich nicht vollends zu destabilisieren und damit Russland allzu viel Gewicht zu überlassen, werden die alten Grenzen von 1792 zugestanden. Napoleon darf seinen Kaisertitel behalten und mit 800 Getreuen auf der winzigen Mittelmeerinsel Elba »residieren«. Der Bruder des hingerichteten Bourbonen-Königs Ludwig XVI. besteigt jetzt als Ludwig XVIII. den französischen Thron.
Alles auf Anfang. Das Gleichgewicht der europäischen Mächte ist wieder sorgfältig austariert. Und noch einmal startet der Adel mit der vom russischen Zaren angeregten »Heiligen Allianz« den letzten Versuch, das Gottesgnadentum aller Monarchen gegen den revolutionären, agnostischen Trend der Neuzeit abzuschotten: Jesus Christus sei der wahre Souverän aller europäischen Völker; die Monarchen seien die gottgewollten Familienväter ihrer gehorsamen Untertanen; und das Christentum sei Grundlage aller Politik.
Es könnte so schön sein. Aber dieser Bund von Thron und Altar fällt bereits hoffnungslos gegen die Realitäten der aufgeklärten Zeit zurück, beschert Europa gleichwohl jene lange und etwas langweilige Friedenszeit, die als Epoche des Biedermeier in die Geschichtsbücher eingegangen ist.
Nur noch einmal wird Napoleon mit militärischem Geschick ein Comeback versuchen und Europa aus seinem beginnenden bieder-meierlichen Schlaf kurzzeitig aufschrecken. Über hundert Tage hinweg kann er, als er im März 1815 überraschend in Südfrankreich landet, erneut das europäische Gleichgewicht bedrohen. Denn unter den Franzosen findet er rasch viele Anhänger, die den glorreichen Zeiten glänzender Siege nachträumen. Doch in der Schlacht bei Waterloo unterliegt Napoleon den Engländern unter Wellington im Verbund mit den preußischen Truppen der Generäle Blücher und Gneisenau. Um nicht in die Hände der Preußen zu fallen, die nach dieser neuerlichen Attacke mit dem unbequemen Korsen wohl kurzen Prozess machen würden, flüchtet Napoleon zu den Engländern. Die finden mit der abgelegenen Atlantikinsel St. Helena einen sicheren und endgültigen Verbannungsort. Hier wird er sechs Jahre später auf einem alten Feldbett sterben.
Wenn Sie heute im Pariser Invalidendom vor dem gigantischen Quarzit-Sarkophag stehen, in dem Napoleon erst vierzig Jahre nach seinem Tod zur Ruhe kam, dann werden Sie vielleicht einen starken Widerspruch empfinden: den Widerspruch zwischen dem riesigen, unbeweglichen Super-Size-Sarg in Mammutgröße und dem unruhigen Leben des doch so kleinen, quirligen Selfmade-Mannes, der ganz Europa aufmischte und doch niemals Erfüllung fand. Und bedenken Sie dann bitte, was übermäßige Selbstliebe in Verbindung mit Minderwertigkeitsgefühlen alles anrichten kann. Und wägen Sie in Ihrem Geiste jenes Urteil Napoleons über sich selbst, das er nach der Völkerschlacht zu Leipzig in tiefer Resignation gegenüber Metternich bekannte. Es war sein lebenslanges, furchtbares Mantra: »Eure Herrscher, geboren auf dem Throne, können sich zwanzigmal schlagen lassen und doch immer wieder in ihre Residenzen zurückkehren. Das kann ich nicht, ich, der Sohn des Glücks! Meine Herrschaft überdauert den Tag nicht, an dem ich aufgehört habe, stark und gefürchtet zu sein.«
33. Fahrstuhl in eine neue Welt
Genau so sieht ein kunstvoller Dom der Neuzeit aus. Eine Kirche des Fortschritts. Ein technisches Heiligtum mit elektrischem Fahrstuhl. Für die Menschen am Ende des 19. Jahrhunderts versammelt sich in diesem ursprünglich rotbraunen Gittergerüst des Eiffelturms alles, was den festen Glauben an die Moderne repräsentiert: das Machbare, das Industrielle, die technische Verlässlichkeit, der Vorrang von Mathematik und physikalischer Berechenbarkeit, der Triumph des Fortschritts, der himmelstürmende Glaube an eine bessere Zukunft.
Wir haben es auf unserer Zeitreise andauernd gesehen: Politik verändert die Welt. Aber Wissenschaft und Erkenntnis verändern die Welt noch mehr. Doch fragt man, was im 19. Jahrhundert die Verhältnisse am nachhaltigsten durcheinandergewirbelt hat, dann lässt sich darauf kurz und knapp antworten: die technische Beherrschung der Natur.
Es war ein Paukenschlag der Geschichte: Zum ersten Mal gelang es der Menschheit, die Naturkräfte in umfassender Weise in den Dienst der eigenen Sache zu stellen. Den Dampf arbeiten zu lassen, anstatt die eigenen Muskeln gebrauchen zu müssen. Elektrische Ströme sprechen zu lassen, statt mühsam selbst Botschaften von Ort zu Ort zu transportieren. Mit heißer Luft zu fliegen. Auf Stahlbändern sich pfeilschnell durch die Welt zu bewegen. Die eigene Stimme, Musik und Bilder konservierbar und jederzeit abrufbar zu machen. Mit Chemikalien über das Wachstum der Pflanzen zu herrschen. Den Lebensrhythmus ganz nach Wunsch zu beschleunigen. Mit der Technik alle alten Grenzen, auch die des Denkens, aufzubrechen.
Wir müssen gar nicht weit in der Weltgeschichte zurückreisen, um diese folgenschwerste aller Revolutionen live mitzuerleben. Unsere Ururgroßväter könnten tatsächlich noch Augenzeugen dieses gewaltigen Umbruchs gewesen sein.
Im Jahr 1802 zum Beispiel. Da machen die Engländer erste Versuche mit Dampfschiffen, nachdem sich bereits 1769 der englische Arbeiter James Watt die Dampfmaschine hatte patentieren lassen. Und im November 1783 waren die ersten Flugpioniere der Weltgeschichte in einem Ballon der Gebrüder Montgolfier über Paris aufgestiegen. Fast zeitgleich mit dem ersten Raddampfer des amerikanischen Malers und Technikpioniers Robert Fulton macht 1804 die erste Lokomotive des Erfinders Richard Trevithick ihre ersten Fahrversuche. 1821 wird dann in England eine Eisenbahnlinie eröffnet.
Seit 1825 befreien Spinnmaschine und mechanischer Webstuhl von der Mühsal der Handarbeit. In das Jahr 1837 fallen gleich zwei weltbewegende Erfindungen: Der amerikanische Maler Samuel Morse entwickelt den Telegrafen, und der Franzose Louis Daguerre schießt das erste brauchbare Foto, die »Daguerreotypie«. Die Entwicklung von Kunstdünger durch Justus von Liebig revolutioniert die Landwirtschaft. Das leichteste Metall der Welt, Aluminium, wird durch Elektrolyse aus Bauxit gewonnen, und in Bochum erfindet Jacob Meyer das Stahlgussverfahren. 1853 rattert die erste U-Bahn unter den Häusern Londons hindurch. Die Entdeckung der Bakterien durch Robert Koch weckt Hoffnungen, die größten Geißeln der Menschheit endlich zu besiegen. Die mendelschen Gesetze des österreichischen Abts Gregor Mendel schaffen die Grundlage für systematische Tier- und Pflanzenzucht.
1870 wird im Schlachthaus von Chicago das erste Fließband montiert, eine Neuerung, die bald die gesamte Arbeitswelt revolutionieren wird und den Begriff der »Effizienz« in die Welt bringt. Thomas Alva Edison zeigt 1880 den Menschen, was Elektrizität alles leisten kann, und erleuchtet ihre Räume gänzlich rußfrei mit einem strahlenden Glaskolben. Zu dieser Zeit schaffen es die Gleisbauer bereits, das europäische Schienennetz pro Jahr um 10 000 Kilometer zu erweitern. Die räumliche Entfernung zwischen den Menschen schrumpft schneller, als es die mentale Distanz zwischen den Nationen vermag. Ganz am Ende des Jahrhunderts lernen dann auch noch die fotografischen Bilder laufen, die Kutschen ohne Pferde zu fahren, und man kann sich jetzt sogar über riesige Entfernungen unterhalten, ohne sich dabei sehen zu müssen. Die verrückte Erfindung von Philipp Reis und Graham Bell, das Telefon, funktioniert tatsächlich. Und sogar der Himmel gehört seit Otto Lilienthal nicht nur Gott und den Engeln, sondern jetzt auch den Piloten.
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