Zum Beispiel dem Schriftsteller Ferdinand Lassalle (1825 -1864). Dessen außergewöhnlich kämpferischer Eifer wird nicht nur durch die Tatsache belegt, dass er bereits als Zwölfjähriger einen Nebenbuhler zum Duell forderte und mit 39 Jahren schließlich infolge eines solchen Ehrenhandels auch zu Tode kam; sondern selbst der Kommunist Friedrich Engels, der Lassalle wegen seiner positiven Einstellung zum preußischen Staat eher kritisch gegenüberstand, sah in ihm »den einzigen Kerl in Deutschland, vor dem die Fabrikanten und Fortschrittsschweinehunde Angst haben«.
Lassalle ist ein Genie der freien Rede. Er versteht es, die Massen mit Worten zu faszinieren und zu mobilisieren. Mehrfach wandert er dafür ins Gefängnis. Er glaubt nicht an das freie Spiel der Wirtschaftskräfte und sieht nur eine Möglichkeit, »aus der Wüste herauszukommen«: Die Arbeiter müssten sich organisieren. Sie müssten eine eigene Partei bilden, die ihre Interessen politisch zur Geltung bringt. Voraussetzung dafür ist ein allgemeines, gleiches und direktes Wahlrecht, das nicht wie bisher nach Steuerklassen die jeweiligen Stimmen gewichtet. Dafür kämpft Lassalle. Denn seit 1849 gilt in Preußen das Drei-Klassen-Wahlrecht, das dem Geldadel, der gerade mal vier Prozent der Bevölkerung ausmacht, ein Drittel der Stimmgewalt bei der Besetzung des preußischen Abgeordnetenhauses zugesteht.
Lassalle geht den »parlamentarischen Weg«, nicht den einer »APO«, einer »außerparlamentarischen Opposition«, oder gar den einer blutigen Revolution, wie sie die radikaleren Sozialreformer, zu denen etwa auch der Komponist Richard Wagner (1813 -1883) zeitweise gehört, herbeisehnen. Das trägt ihm zwar die Gegnerschaft der Kommunisten ein, aber er erreicht in mehreren Gesprächen mit Bismarck Zugeständnisse. Das Verbot, sich als Arbeiter gewerkschaftlich zu organisieren, wird in Preußen freilich erst 1869 aufgehoben. Und das preußische Drei-Klassen-Wahlrecht wird erst 1919 fallen.
1863, ein knappes Jahr bevor Lassalle wegen eines abgewiesenen Heiratswunsches im Duell stirbt, gründet er den »Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein«. Es ist die erste politische Arbeiterpartei, die später als SPD firmieren wird und heute die älteste im Bundestag vertretene Partei Deutschlands ist. Der frühe Tod aus Liebesleidenschaft verhinderte die Entfaltung seiner anderen großen Passion: des Kampfes für die soziale Gerechtigkeit. Aber die »Inventur meines Lebens«, die der 39-Jährige wenige Tage vor dem tödlichen Duell vornahm, fiel dennoch recht tröstlich aus: »Mein Leben war groß, brav, wacker, tapfer und glänzend genug!« Ein anderer Zeitgenosse hat noch weit mehr die Weltgeschichte beeinflusst. Und bis heute ist nicht entschieden, ob sein Vermächtnis eher ein Fluch oder ein Segen für die Menschheit ist: Karl Marx (1818 -1883), der mit seinem schwer lesbaren, dreibändigen Buch »Das Kapital« zur Ikone aller Weltverbesserer wurde. Vergeblich versuchte übrigens Marx sein großes Werk dem Evolutionsforscher Charles Darwin zu widmen, der diese Ehre dankend ablehnte.
Marx selbst hat sich die epochale Wirkung, die von seiner Lehre ausging, durchaus theoretisch ausgemalt, denn er war ein Anhänger jenes Philosophen, der das 19. Jahrhundert beherrschte und damals schwer in Mode war: Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770 -1831). Hegel wiederum vertrat die Vorstellung, die Geschichte schreite »dialektisch« voran, d. h. die Weltgeschichte sei ein Kampf von Gegensätzen, der sich stufenweise vollziehe, mit dem Endzweck der Versöhnung von Natur und Geist. Die »Herstellung universaler Freiheit«, das Ende der Geschichte stehe bevor.
Karl Marx hat diese Vorstellung gleichsam materialisiert. In seiner Gesellschaftstheorie wird die Weltgeschichte als Abfolge von Klassenkämpfen gedeutet. Und der letzte Kampf sei unmittelbar zu erwarten: zwischen der herrschenden Klasse der Bourgeoisie (des Bürgertums) und dem Proletariat. Erst der Triumph der Arbeiterklasse werde in einer »klassenlosen Gesellschaft« den »ewigen Frieden« bringen. Und es könne keinen Zweifel geben: Nach dem dialektischen Gesetz der Geschichte werde das Proletariat das Bürgertum besiegen. Der Kommunismus sei »das aufgelöste Rätsel der Geschichte«.
Marx stellt die Ideenwelt Hegels, wie Engels sagte, »vom Kopf auf die Füße«. In seiner Philosophie ist es nicht unser Bewusstsein, das unsere Existenz gestaltet, wie bei Hegel, sondern es sind andersherum die materiellen Verhältnisse, die unser Bewusstsein prägen. Bei Marx tritt das Materielle in den bestimmenden Vordergrund der Existenz, den Himmel mitsamt der Religion will er getrost den Engeln überlassen. »Historischer und dialektischer Materialismus« ist denn auch der eigentliche Name jener Philosophie, die man heute gewöhnlich als Marxismus bezeichnet.
Karl Marx muss eine ebenso faszinierende wie beunruhigende Erscheinung gewesen sein. Temperamentvoll, zupackend, laut, groß gewachsen, vierschrötig, mit wilder Mähne, langem Rauschebart und schief zugeknöpftem Rock sprach er »in Imperativen, die keinen Widerspruch duldeten« - so schildern es Zeitgenossen. Auch er gehört zu den großen Gestalten des 19. Jahrhunderts, die gleichsam aus dem Nichts auftauchen, wie Darwin und Napoleon, aber eine Wirkung entfalten, die weit über ihr Jahrhundert hinauswächst.
Als Sohn eines Rechtsanwalts im provinziellen Trier geboren, studiert er Jura und Philosophie, um schließlich bei der Rheinischen Zeitung in Köln als Journalist zu arbeiten. Doch die Zensur in den restaurativen, rückwärtsgewandten 1840er-Jahren treibt ihn in die Emigration. Zuerst nach Paris, wo er den Fabrikantensohn Friedrich Engels (1820 -1895) kennenlernt, jenen vermögenden Mitstreiter, der ihn zeitlebens finanziell unterstützen wird und der selbst ein aufrüttelndes Buch über das Arbeiterelend in England verfasst hat. Anschließend nach Brüssel, von wo er, als 1848 die französische Februarrevolution ganz Europa erschüttert, ausgewiesen wird. Marx reist als Berufsrevolutionär, wird zuletzt von der preußischen Regierung für staatenlos erklärt und ausgewiesen, emigriert erneut nach Paris und wird auch dort mit Verhaftung bedroht. Mit seiner Frau und seiner großen Kinderschar (von seinen sieben Kindern überleben ihn allerdings nur drei Töchter) bleibt ihm nur noch das Exil in London, wo er bis zu seinem Tode 1883 unter oft dürftigen Verhältnissen lebt.
Gemeinsam verfassen Marx und Engels im Revolutionsjahr 1848 eine 23-seitige Flugschrift, die in deutscher Sprache in London gedruckt wird und die heute zu den berühmtesten Schriftzeugnissen der Weltgeschichte zählt: das »Manifest der Kommunistischen Partei«.
Die Kommunisten, so heißt es unverblümt im letzten Absatz der Schrift, »erklären es offen, dass ihre Zwecke nur erreicht werden können durch den gewaltsamen Umsturz aller bisherigen Gesellschaftsordnung. Mögen die herrschenden Klassen vor einer kommunistischen Revolution zittern. Die Proletarier haben nichts in ihr zu verlieren als ihre Ketten. Sie haben eine Welt zu gewinnen. Proletarier aller Länder, vereinigt euch!«
Können wir uns heute die radikale Umsturzbegeisterung dieser Zeit annähernd vorstellen? Wohl kaum. Denn den Menschen des 19. Jahrhunderts fehlt unsere relativierende Erfahrung der späteren politischen Katastrophen. Sie sind ganz anders als wir. Von brutaler Technisierung und furchtbarer Vermassung des Mordens ahnen sie noch nichts. Das Grauen von Auschwitz und der Albtraum der Atombombe sind ihnen noch unvorstellbar. Der »Weltenbrand« ist in dieser Zeit immer noch reine Philosophie, mehr geistige Attitüde als wirkliche Tat. Und die Vorstellung vom Endkampf, vom endgültig »letzten Gefecht«, zu dem in der »Internationalen« aufgerufen wird, hat für die Menschen dieser Epoche noch keineswegs etwas Lächerliches. Es ist die Zeit, da sogar ein Schöngeist wie Richard Wagner, der in seiner Musik stets den Untergang als ästhetisches Erlebnis beschwört, beim Eisengießer Oehme in Dresden hundert Handgranaten bestellt. Es ist die Zeit, wo mit Pathos alles Alte »hinweggefegt« werden soll und »Gott tot ist«, wie der Altphilologe und Dichter-Philosoph Friedrich Nietzsche (1844 -1900) kompromisslos behauptet. Aber noch nichts ist passiert. Eine Epoche, die fast hysterisch zwischen düsterer Endzeitfantasie und krassem Zukunftsoptimismus pendelt. In der alles »total« ist oder werden soll: das unüberbietbare »Gesamtkunstwerk« eines Richard Wagners ebenso wie das »letzte Gefecht« der Kommunisten, das unverbrüchliche Gottesgnadentum adliger Herrscher oder die idealistische Philosophie eines Hegel, die den krassen Anspruch erhebt, das Weltganze in all seinen Aspekten vollständig zu erfassen.
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