Gibt es ein treffenderes Symbol für diese Zeit, in der die Sterne zum Greifen nahe scheinen, als das Stahlgerippe, das Gustave Eiffel 1889 in Erinnerung an die Französische Revolution auf dem Pariser Marsfeld errichtete? Mit nur 10 000 Tonnen Gewicht und einer Höhe von 300 Metern, die allerdings bei Winterkälte um bis zu 15 Zentimeter schrumpfen, ist diese Fachwerkkonstruktion das leichteste Bauwerk dieser Größe, das je gebaut wurde. Und - im wahrsten Sinne des Wortes - das Zeugnis einer veränderten WeltAnschauung.
Probieren Sie es doch selbst einmal aus: In den alten gotischen Kathedralen geht Ihr Besucherblick bestimmt von unten nach oben. Kaum, dass Sie das Kirchenschiff betreten haben, schauen Sie mehr oder weniger ehrfürchtig Richtung Decke, wie die Menschen vor Ihnen auch, die sich so ihrer Kleinheit vor Gott bewusst werden sollten. Bei den modernen Bauwerken wie dem Eiffelturm geht der Blick andersherum: Mit dem elektrischen Fahrstuhl saust man zügig an den höchsten Punkt, um von dort aus mit Münzferngläsern, die sich nur nach unten neigen lassen, auf die Menschen in den Straßen zu blicken, also auf sein eigenes Dasein. Man blickt nicht in den Himmel. Die Dinge, die man jetzt sieht, sind konkret, diesseitig und materiell. Nichts ist da spirituell, esoterisch oder religiös.
Der traditionelle Gottesglaube wird für den, der so auf seine Welt schaut, immer hinfälliger. Priester und Theologen bekommen jetzt starke Konkurrenz von neu erfundenen »Dolmetschern des Lebens«, von Psychologen, Psychotherapeuten, Psychoanalytikern, Soziologen, Sozialarbeitern, die es alle in der gesamten Menschheitsgeschichte zuvor nicht gab. Die diffusen religiösen Begriffe von einst werden nun ersetzt durch fachliche Definitionen mit wissenschaftlichem Gütesiegel: Moderne Menschen sind nicht einfach »gut« oder »böse«, sondern »gesund« oder »krank«. Und die Ausgegrenzten heißen nicht mehr Ketzer, Hexen und Teufel, sondern Staatsfeinde, Asoziale und Terroristen.
Es ist auch die Zeit ganz neuer Helden. Gustave Eiffel hat in der Balustrade der ersten Plattform 72 Namen in Goldschrift eingravieren lassen, die allerdings durch spätere Anstriche übermalt wurden und deshalb heute fast vergessen sind. Eiffel tat damals das, was bereits die Römer bei ihren Triumphbogen in Hinblick auf erfolgreiche Feldherrn taten: Er ehrte mit den Inschriften die Helden seiner Epoche, und die Helden seiner Zeit waren nun nicht Feldherrn oder Glaubenskämpfer, sondern allesamt Wissenschaftler.
So gewinnt man von diesem Turm aus den Überblick über die gewaltigen Leistungen der menschlichen Schöpfung. Und staunt. Stolz zu sein auf sich selbst und seinen Fortschritt - das ist eine wesentliche Errungenschaft der bürgerlichen Gesellschaften des 19. Jahrhunderts.
Was für ein Welten-Wechsel innerhalb von drei Generationen! Als im Jahre 1814 die Preußen nach dem Sieg über Napoleon in Paris einritten, brauchte es noch ganze neun Tage, bevor die Berliner diese Top-Nachricht erfuhren. Hundert Jahre später vergehen nur noch 0,025 Sekunden, um eine Nachricht von Amerika nach England zu übermitteln. Kann man so viel Fortschritt auf einmal wirklich aushalten?
Die Übertragung der technischen Naturbeherrschung auf die Arbeitswelt kommt einem gesellschaftlichen Erdrutsch gleich, den man später als »Industrielle Revolution« bezeichnet hat. Man hat mit diesem Wort nicht übertrieben. Denn eine völlige Verwandlung, ein Umsturz, findet wirklich statt: In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts verwandeln sich über Nacht traditionelle Agrarwirtschaften in Industriegesellschaften. England ist mit seiner mächtigen Seeflotte und den überseeischen Kolonien der größte Ex-und Importstaat und marschiert an der Spitze dieser Entwicklung. Das Commonwealth zeichnet den Weg der Zukunft vor. Mit der Einführung von Maschinen, die anfangs grundsätzlich als Großgeräte daherkommen, stirbt die Manufaktur, das kleine Handwerk. Die alten Zünfte lösen sich auf, an ihre Stelle tritt die Macht der Maschinenbesitzer.
Überhaupt wird jetzt Besitz viel wichtiger als Kenntnis und Fähigkeit. Denn jeder kann eine Maschine auch ohne langwierige Ausbildung und Talent bedienen. Allerdings wird die teure Maschine nun unabdingbare Voraussetzung für produktive Arbeit. Und eine solche Investition können sich nur vermögende Kaufleute leisten. Die Masse der Menschen wird vom Fortschrittsprofit abgehängt.
Kohle und Eisen, bisher eher marginale Rohstoffe, werden zu Schlüsselmaterialien der expandierenden Produktion. Der Eisenbahnbau löst einen Boom der Schwerindustrie aus, die es ein paar Jahre zuvor noch gar nicht gab. Das Lohndumping und damit das Elend der Arbeiter sind dabei systemimmanent: Denn der brutalste Lohndrücker hat den größten wirtschaftlichen Erfolg, weil er es doch ist, der seine Produkte am Markt am billigsten anbieten kann. Für die Arbeiterschaft bürgert sich schon Anfang des Jahrhunderts der Begriff Proletariat ein, von lateinisch proles, d. h. »Nachkommen«. Das Wort beschreibt nüchtern und sachlich, was der einzige Besitzstand dieser Menschen ist: ihre Kinder. Sonst nichts. Ein neuer, ein »Vierter Stand« ist geboren.
Wirtschaftliche Mechanismen funktionieren mit der Zwangsläufigkeit einer Rechenmaschine. Der sogenannte Manchester-Kapitalismus ist ein ebenso klassisches wie abschreckendes Beispiel für die »Freie Marktwirtschaft«: Weil in den Dreißigerjahren des 19. Jahrhunderts die Baumwollindustrie in Manchester die ausländische Konkurrenz zu spüren bekommt, senken die Fabrikbesitzer die ohnehin geringen Löhne. Trotz 15 Stunden täglicher Arbeit können Väter ihre Familien von diesem Lohn nicht mehr ausreichend ernähren, Kinder und Frauen müssen mitarbeiten. Das erste staatliche Arbeitsgesetz von 1833 gilt vielen Fabrikbesitzern schon deshalb als allzu arbeiterfreundlich, weil es die Arbeitszeit für Neunjährige auf neun Stunden täglich begrenzt und die Altersgrenze für schwerste Bergwerksarbeit auf zehn Jahre heraufsetzt. Forderungen werden laut, der Staat solle sich grundsätzlich nicht in wirtschaftliche Vorgänge einmischen. Vor allem solle er die Schutzzölle für Lebensmittel aufheben, um so eine billigere Ernährung der Proletarier zu ermöglichen. 1846 erfolgt tatsächlich die Aufhebung aller Getreidezölle. Doch die Ersparnis kommt bei den Arbeitern nicht an. Stattdessen werden die Produkte verbilligt. Ein neuer Preiskampf ist die unmittelbare Folge, an dessen Ende die Löhne der Arbeiter erneut gedrückt werden. Bald wird klar: Den Proletariern fehlt jede Möglichkeit, auf ihr Schicksal gestaltend einzuwirken. Und indem Hunger und pure Not die Menschen zwingen, gegeneinander um Arbeitsplätze zu konkurrieren, setzt sich die vernichtende Spirale der immer tieferen Löhne in Gang. Das freie Spiel der Wirtschaftskräfte, der totale Wirtschaftsliberalismus lässt die Schere zwischen Arm und Reich dramatisch auseinanderklaffen.
Viele Menschen der Zeit erkannten früh, dass die soziale Frage das bedeutendste Problem des 19. Jahrhunderts werden sollte. Gleichwohl herrschte keine klare Vorstellung darüber, wie der gesellschaftliche Umbruch in den Griff zu bekommen wäre. In England waren es nur wenige Vordenker wie der Fabrikbesitzer Robert Owen (1771-1858), die, wie auf dem Kontinent etwa der Firmengründer Alfred Krupp (1812-1887) mit seiner Idee einer Arbeiter-Krankenversicherung oder Ernst Abbé mit der Verpflichtung einer Arbeiterbeteiligung am Reingewinn der Zeiss-Werke, Lösungen ersannen, die der Verelendung des Proletariats entgegenwirkten.
Die Kirchen beider Konfessionen, weitgehend noch von Missionsund Bekehrungsideologie erfüllt und viel zu nah an Großbürgertum und Adel orientiert, verschlafen weitgehend die soziale Frage, was im weiteren Verlauf der Geschichte dazu führt, dass die Arbeiterschaft zur Kirche auf Distanz geht. Im rückwärtsgewandten Ersten Vatikanischen Konzil (1868 -1870) geht es Papst Pius IX., der mit Leidenschaft die Marienverehrung vorantreibt, vor allem um die Zementierung seiner eigenen päpstlichen Unfehlbarkeit und die »Abwehr der modernen Irrtümer des Rationalismus«. Gleichwohl gibt es auf regionaler Ebene, bei Katholiken wie Protestanten, zahlreiche Einzelversuche, das Schicksal der Arbeiterschaft zu lindern. Der Bischof von Mainz, Wilhelm Emmanuel von Ketteler (1811-1877), spricht der Arbeiterschaft sogar das Recht zu, für gerechte Löhne zu kämpfen. Den großen Wurf in der sozialen Frage aber überlassen die Kirchen den Intellektuellen und Agnostikern.
Читать дальше