Mit dem Sieg bei Austerlitz 1805 gegen die Alliierten wird ein Jahrzehnt der gigantischen Schlachten eingeläutet. Es ist zugleich die schier unglaubliche Erfolgsstory einer einfachen korsischen Familie. Denn Napoleon verteilt die eroberten Herzogtümer, Grafschaften und Königreiche unter seine Verwandten: Sein Schwager erhält einen Teil von Deutschland, sein Stiefsohn Italien, ein Bruder Neapel, ein anderer Holland, die Schwester ein Herzogtum in Italien, sein Bruder Joseph wird König von Spanien, ein weiterer König von Westfalen.
Hätten sich diese Familienmitglieder zwanzig Jahre zuvor je ausmalen können, dass sie einstmals zu Beherrschern Europas aufsteigen würden? Zu Fürsten, Königen und Kaisern, damals, als sie wie Hungerleider am Rande der zivilisierten Welt in der schroffen Bergwelt Korsikas hausten, jener Insel vor der italienischen Küste, die eher zufällig in den Besitz Frankreichs geriet?
Jetzt ist es dieser kleine Korse, der auch noch das tausendjährige Heilige Römische Reich Deutscher Nation endgültig zu Fall bringt. 1806 sieht Kaiser Franz II. den politischen Realitäten ins Auge und legt den uralten Kaisertitel unter dem Druck Napoleons ab. Damit bricht der geschichtlich gewachsene Brückenschlag zwischen Antike und Neuzeit unwiderruflich ab. Bereits 1803 war unter dem massiven Drängen des antiklerikalen Frankreich im sogenannten Reichsdeputationshauptschluss, der letzten großen gesetzlichen Beschlussfassung des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, die Auflösung aller geistlichen Fürstentümer vereinbart worden, also die Auflösung all jener Territorien, in denen seit der Zeit Karls des Großen die Bischöfe wie landesherrliche Fürsten regierten.
Der »Reichsdeputationshauptschluss« - eines der schönsten Wortungetüme deutscher Sprache - beendet 1803 die weltliche Herrschaft der Kirche, den Staat im Staate. Dennoch bleiben »Thron und Altar« im Zeitalter der Heiligen Allianz verbündet, und noch Bismarck muss Zivilehe und staatliche Schulaufsicht gegen die katholische Kirche durchsetzen.
Gleichzeitig schrumpfte mit der Enteignung des Kirchenbesitzes die Zahl der vielen hundert Klein- und Kleinstfürstentümer in Deutschland, weil die kirchlichen Territorien als Entschädigung für den Verlust der linksrheinischen Gebiete den weltlichen Fürsten übereignet wurden. Für Kaiser Franz II. (1768-1835) bedeutete diese Entwicklung freilich eine weitere Schwächung seiner Stellung im Reich. Denn mit dem Verschwinden der zahlreichen geistlichen Fürstentümer schrumpfte die Zahl der reichsunmittelbaren Herrschaftsgebiete von einigen hundert auf nur mehr 34.
So brachte Napoleons Vordringen nach Deutschland in der Bilanz drei Tendenzen hervor, die die Zukunft Deutschlands entscheidend geprägt haben: die Schwächung des alten europäischen Kaisertums, die Verminderung der zahllosen Kleinterritorien und die Vergrößerung der souveränen Großfürstentümer.
Im selben Jahr, da sich Kaiser Franz II. zwangsweise zu Kaiser Franz I. von Österreich herabstufen muss, geht Napoleon erfolgreich gegen den letzten starken Widerständler Preußen vor und versucht von hier aus eine Blockadepolitik gegen England. Er hofft, die Insel aushungern zu können, wenn er schon gegen die starke Seestreitkraft nicht ankommt. Bei Napoleons triumphalem Einzug in Berlin wird zwar offiziell ein Bündnis mit Preußen verkündet, aber unterschwellig mit dieser Zwangsvermählung zugleich schon der Keim gelegt zur französisch-preußischen »Erbfeindschaft«, die in den kommenden 150 Jahren noch viel schreckliches Blutvergießen verursachen wird.
1809, nach der Schlacht bei Wagram, reitet Napoleon endlich auch in Wien ein, in das einstige Herz des europäischen Kaisertums. Er ist am Ziel. Vorläufig. Franz muss gute Miene zum bösen Spiel machen und gibt dem neuen starken Mann seine Tochter zur Frau. Gezwungenermaßen. Denn wie wird sich der abgedankte Kaiser des Heiligen Römischen Reiches dabei wohl gefühlt haben? Zu seiner politischen Ohnmacht gesellt sich jetzt noch die bittere Gewissheit, dass sich mit dieser Heirat 500 Jahre Habsburger Herrlichkeit mit dem Blut eines ehemaligen korsischen Habenichts vermischen müssen.
Aber wer fragt noch nach Blut, wenn es um einen politischen Supermann geht, der inzwischen ein Reich beherrscht, das größer ist als dasjenige Karls des Großen? Oder wie es der Zeitgenosse Goethe als politischer Beobachter einmal nüchtern - an den deutschen Adel adressiert - konstatiert hat: »Schüttelt nur an euren Ketten. Der Mann ist euch zu groß!«
Andererseits ist die Weltgeschichte voller Paradoxien. Ein »großer Befreier« kann sich schnell als »großer Diktator« entpuppen. Politische Stimmungen können über Nacht kippen. Ein Sieg mobilisiert oft Gegenkräfte, die sich auf lange Sicht als wirkungsvoller erweisen als der größte Triumph. Und plötzlich denken dann alle wie Beethoven.
Der erste hartnäckige Widerstand durch den Freiheitskämpfer und Viehhändler Andreas Hofer (1767-1810) in Tirol setzt trotz, oder gerade wegen, seiner Erfolglosigkeit nationale Kräfte frei. Napoleons mitreißende Revolutionsverheißung weicht zunehmend einer Ernüchterung über den rücksichtslosen Herrscher, der ein paar Jahre später einmal dem österreichischen Kanzler Fürst von Metternich gestehen wird: »Ich bin im Felde aufgewachsen, und ein Mann wie ich schert sich wenig um das Leben von einer Million Menschen!«
An Napoleons Konsequenz schärft sich zunehmend die nationale deutsche Idee. Letztlich ist er es, dessen Taten bei vielen Deutschen die Sehnsucht nach eigener Identität und nationaler Zusammengehörigkeit wecken und dessen imperiales Vorpreschen den lange vorherrschenden französischen Kultureinfluss mehr und mehr überschattet. Die deutschen Dichter und Denker der Romantik beginnen den Schatz der deutschen Sprache zu heben und entdecken bisher vernachlässigte Traditionen und Geschichten, wie sie jetzt aus dem Dunkel der mündlichen Überlieferung auftauchen, etwa mit der Märchenforschung der Brüder Grimm oder der Volksliedsammlung »Des Knaben Wunderhorn« von Clemens Brentano und Achim von Arnim. Deutschland beginnt sich im Lichte der napoleonischen Kriege als eigene Nation zu entdecken und seine Vergangenheit wertzuschätzen.
Und wie löst sich am Ende der Knoten? Im Grunde ganz einfach. In gewisser Weise besiegt Napoleon sich selbst. Denn brennender Ehrgeiz kann zur schärfsten Selbstmörder-Waffe werden, die sich denken lässt.
1812 ist das Jahr, in dem das Blatt sich wendet. Napoleon zieht mit 700 000 Mann die bis dahin größte Armee aller Zeiten zusammen, um noch Russland in die Knie zu zwingen. Der vorgegebene Anlass für den gewaltigen Überfall ist eher nichtig: Angeblich treibt Russland Handel mit England und sabotiert damit die Blockadepolitik. Der geplante militärische Triumphzug nach Moskau aber gerät zum militärischen Fiasko. Die Strategie der Russen ist immer dieselbe. Schon Peter der Große hat so die Schweden im Nordischen Krieg besiegt, und 140 Jahre später wird sich auch Hitler die Zähne daran ausbeißen: Die Russen lassen ihr unendlich weites Land für sie kämpfen.
Was sind schon 700 000 Mann in einem Reich, das vierzigmal größer ist als Frankreich und gut ein Sechstel des Festlandes der Erde ausmacht? Die russische Taktik der verbrannten Erde verhindert, dass sich die heranrückende Armee aus den Beständen der eroberten Landstriche ernähren kann. Erst als Napoleon endlich vor den Toren Moskaus steht, kommt es zur großen Schlacht von Borodino, die für Napoleon zwar sieg-, aber zugleich mit 80 000 Toten äußerst verlustreich ausgeht. Als seine Truppen Moskau besetzen, ist die Stadt leer und steht bald schon in Flammen. Und was ist zu tun, wenn der Zar, der nun eigentlich ehrerbietig die Waffen strecken sollte, sich nicht einmal zeigt?
Der Rückmarsch durch den russischen Winter und die ausgeplünderten Landstriche besiegelt das Schicksal der Grande Armée endgültig, spätestens als bei der Überquerung des vereisten Flusses Beresina Kosaken über die geschwächte Truppe herfallen. An der Memel, beim Eintritt in das preußische Reichsgebiet, wird klar, dass kaum fünf Prozent der Soldaten diesen Feldzug des Schreckens überlebt haben. Napoleon selbst hat sich bereits verkleidet in einem Bauernschlitten nach Paris abgesetzt und bastelt an dem Plan, wiederum Abertausende neuer Soldaten zu rekrutieren, um den Verlust an Menschenmaterial schnell wieder wettzumachen.
Читать дальше