Das Volk jubelt. Der König verliert die Kontrolle. Als Soldaten den Zutritt zum Sitzungssaal des Dritten Standes behindern, weicht man erregt in das Versailler Ballhaus aus. Hier kommt es zum berühmten »Ballhausschwur«, bei dem die Abgeordneten schwören, erst dann auseinanderzugehen, wenn eine neue Verfassung beschlossen sei. Statt zu agieren, kann König Ludwig jetzt nur noch reagieren und gibt gezwungenermaßen die Order, alle Stände mögen sich zur verfassunggebenden Nationalversammlung vereinen. Die Revolution hatte gesiegt.
Mit dieser Entscheidung könnte das Kapitel glücklich beendet sein. Aber ein Dampfkessel, der recht lange befeuert wird, braucht viel Zeit, bis er erkaltet. Und vor allem muss der Dampf heraus. Die Idee des Neuen, des Revolutionären, entwickelt auf Menschen immer eine faszinierende Sogkraft, die plötzlich alles mitreißt, was gestern noch hoch und heilig war. Während die Nationalversammlung tagt, stürmt die aufgeregte Pariser Menge am 14. Juli 1789 das alte Symbol absolutistischer Herrschaft: die Bastille, das alte Staatsgefängnis. Und wenn es auch nur sieben Gefangene sind, die man dort findet und befreit, so ist dieser 14. Juli doch zum französischen Nationalfeiertag geworden, zum großen Symbol für die Revolution und die Übernahme der politischen Macht durch das Volk. Drei Tage später entsteht übrigens die Trikolore, die Flagge Frankreichs, als der König selbst nach Paris einfährt und als Zeichen seiner Zustimmung an seinem weißen Hut die blau-rote Pariser Kokarde trägt, jenes Schleifenband, das man im 17. Jahrhundert in Frankreich gerne am Hut trug, wenn man die Zugehörigkeit zu irgendeiner Gruppe zum Ausdruck bringen wollte.
Die späte Zustimmung wird ihm aber nichts nützen, auch wenn die Menge ihm jetzt noch zujubelt. Überall im Land gerät das Revolutionsfeuer bald gänzlich außer Kontrolle. Die staatliche Ordnung befindet sich in Auflösung. Die Notwendigkeit eines Königs in der nunmehr konstitutionellen Monarchie wird immer fraglicher. Der Staatsbankrott treibt Teuerung und Arbeitslosigkeit ins Extrem, auch wenn jetzt, am 5. August, Adel und Klerus bereit sind, auf alle Privilegien zu verzichten.
Beispielhaft dafür, wie schwer es ist, eine Wirtschaftskrise in den Griff zu bekommen, ist der Versuch der Nationalversammlung vom 10. Oktober: Auf Antrag des Bischofs Charles de Talleyrand (1754-1838) wird aller Kirchenbesitz staatlich eingezogen. Mit dem Verkauf der Besitztümer und Grundstücke will man zu dringend benötigtem Geld kommen, denn selbst die geringen Steuereinnahmen versiegen in den allgemeinen Wirren. Um die Immobilien kon-vertibel zu machen, wird Papiergeld gedruckt, dessen Wert durch den eingezogenen Kirchenbesitz gedeckt sein soll. So weit, so gut. Aber das plötzliche Überangebot an Grundstücken und Häusern lässt den Markt über Nacht zusammenbrechen. Die Preise stürzen in den Keller und mit ihnen der Wert der bunten Papierfetzen, die man Geld nennt. Eine ungebremste Inflation ist die Folge, die direkte Verwandte des Chaos.
Der sehr fortschrittliche und in seinem Aufklärungswillen selbst Friedrich den Großen überflügelnde Sohn und Nachfolger der österreichischen Kaiserin Maria Theresia, Joseph II. (1741-1790), der sofort nach Regierungsantritt 1780 in Österreich die Leibeigenschaft der Bauern aufhob, die Todesstrafe abschaffte, ein weitreichendes religiöses Toleranzedikt erließ und darüber hinaus in seiner relativ kurzen Regierungszeit gut 6000 (!) Edikte verfasste, um den Vielvölkerstaat Österreich in ein modernes Land zu verwandeln, hatte bereits 1777 seiner Schwester Marie Antoinette, die mit Ludwig XVI. verheiratet war, fast prophetisch ins Gewissen geredet: »So kann es auf Dauer nicht fortgehen, und die Revolution wird furchtbar sein, wenn du ihr nicht vorbeugst.«
Die Mahnung stieß auf taube Ohren. Auf den alarmierenden Hinweis, die Pariser Bürger hätten kein Brot mehr, soll Marie Antoinette den ultimativen Satz vollendeter Herrschafts-Ignoranz gesprochen haben: »Dann sollen sie doch Kuchen essen!« Aber das ist nur erfunden, wenn auch gut. Denn damit ist treffend die gesellschaftliche Kluft beschrieben, die sich zu diesem Zeitpunkt über fast zwei Jahrhunderte hinweg zu einer unüberbrückbaren Schlucht vertieft hatte.
So wartet am 21. Januar 1793 der Henker auf ihren Gemahl, der als »Bürger Louis Capet« öffentlich unter die Guillotine gelegt wird. Es ist eine Ironie der Geschichte, dass in dieser Phase der Revolution König und Königin gleichsam das Opfer einer konzertierten Rettungsaktion werden. Denn die Drohung eines preußischen Feldherrn, Paris dem Erdboden gleichzumachen, wenn die Revolutionäre es wagen sollten, das königliche Schloss zu stürmen, geht nach hinten los. Die preußische Drohgebärde stempelt Ludwig XVI., ob er will oder nicht, zum Verbündeten Preußens und damit zum Staatsfeind Nummer 1. Zumal da Preußen tatsächlich im Verbund mit Österreich gefährlich nah an das revolutionäre Paris heranrückt. In dem Moment, da die Monarchie in ihren Grundfesten erschüttert wird, verbrüdern sich die ehemaligen Erzfeinde, um dem ehemaligen Erzfeind Frankreich zu Hilfe zu eilen.
Denn der revolutionäre Angriff auf die Monarchie wird vom herrschenden Adel europaweit als Generalangriff auf die gottgewollte Weltordnung verstanden. Und da im Herbst 1791 bereits die radikalen Anhänger einer monarchiefreien Republik, die sich nach ihrem ursprünglichen Treffpunkt im Kloster St. Jakob »Jakobiner« nennen, in der Nationalversammlung die Oberhand gewinnen, gehen die europäischen Adelshäuser jetzt aufs Ganze. Ein Krieg ganz neuer Art bricht aus, der nun nicht mehr über Gebietsansprüche unterschiedlicher Länder entscheiden soll, sondern der über 23 Jahre hinweg in ganz Europa die Frage zu klären sucht, wer denn nun das Recht zu herrschen hat: der Adel oder das Volk.
Mit nur einer Stimme Mehrheit entscheidet sich der Nationalkonvent am 20. September 1792, die radikale Demokratie zu verwirklichen und dem König den Kopf abzuschlagen. Von Frankreich aus solle »die Freiheit und das Glück der Welt ihren Ursprung nehmen«, so kommentiert Maximilien Robespierre (1758-1794), einer der radikalsten Anführer der Jakobiner. Aber auch er wird erfahren, dass die entfesselte Revolution am Ende ihre Kinder frisst: Am 28. Juli 1794 fällt auch sein Kopf in den Korb des Henkers.
Der junge Rechtsanwalt Robespierre ist der Beweis dafür, zu welchen Exzessen auch die Aufklärung fähig ist. Mit großer Rednergabe, einem messerscharfen Verstand und der eiskalten Logik eines Killers ausgestattet, errichtete er ein Terrorregime sondergleichen. Ein Mann, der Sätze sagte wie: »Wir wollen in unserem Land den Egoismus durch Sittlichkeit ersetzen, den Glanz durch die Wahrheit«, ist zugleich fähig, Tausende dem Henker zu überantworten und »jeden mit dem Tod zu strafen, der in der Revolution auch nur passiv ist«. Die von ihm inszenierten Konvent-Ausschüsse tragen so wohlklingende Namen wie »Wohlfahrtsausschuss«, sind aber in Wirklichkeit Menschenvernichtungsmaschinen. Er selbst lässt sich als der »Unbestechliche« feiern. Das mag sogar stimmen, unbestechlich in Hinblick auf seine rationale Grausamkeit. Als exklusiver Verwalter des Volkswillens betrachtet er alle seine Entscheidungen über Tod und Leben als unfehlbar.
Die ursprüngliche Hoffnung, im scharfen Verstand endlich ein Mittel gefunden zu haben, um das Leben menschlicher zu gestalten, als es in den dunklen Zeiten des Mittelalters war, wird mit der Person Robespierres schon früh ad absurdum geführt. Es zeigt sich bereits hier, was 150 Jahre später in Nazi-Deutschland noch einmal deutlich werden wird: Der Primat des Verstandes schützt keineswegs vor einer todbringenden Koalition von menschenverachtender Politik und Geist. Gerade die Naturwissenschaften haben damals der Einbindung in den Terror nicht widerstehen können.
Ganz im Gegenteil. Sie haben die Todesmaschinerie geradezu organisatorisch optimiert.
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