Einer, der etwa zur gleichen Zeit wie Descartes den Kampf gegen diese beherrschende Macht aufnimmt, ist der Sternenforscher und Mathematiker Galileo Galilei (1564-1642). Er sucht die Konfrontation mit den alten Dogmen keineswegs vorsätzlich. Ganz im Gegenteil: Durch jahrelange Berechnungen im stillen Kämmerlein hat er ganz sachlich festgestellt, dass sich die Erde um die Sonne bewegt -und nicht andersherum. Das hatte übrigens hundert Jahre zuvor ein deutsch-polnischer Sterngucker namens Kopernikus auch schon herausgefunden, ohne es freilich zu Lebzeiten zu wagen, derart Ketzerisches in die Öffentlichkeit zu tragen. Die nach seinem Tode gedruckten Forschungsergebnisse wanderten postwendend auf den kirchlichen Index der verbotenen Bücher. Denn in der Bibel gab es nun mal diese Stelle, im Buch Josua 10, 12, wo Gott der Sonne und dem Mond befiehlt stillzustehen. »Aber wie kann Gott denn der Sonne Stillstand befehlen, wenn sie ohnehin schon im Zentrum der Planeten stillsteht, wie es Galilei behauptet?«, so die berechtigte Frage der bibelfesten Wahrheitshüter. »Lügt Gott oder lügt Galilei?« Vor das Gericht der heiligen Inquisition gezerrt und mit dem Tode bedroht, nahm der bald siebzigjährige Wissenschaftler dann auch im Jahre 1633 seine »furchtbare Irrlehre« zurück.
Aber die Niederlage Galileis konnte den Siegeszug des neuen Zeitgeschmacks nicht stoppen. Und die Meinungsführerschaft der Kirche in Sachen Naturkunde und Welterklärung bröckelt in diesem Jahrhundert unaufhaltsam. Die Naturwissenschaft, die bislang hinter Theologie, Philosophie und Bibelkunde nur ein Schattendasein führte, erlebt einen geradezu explosionsartigen Boom. Immer neue bahnbrechende physikalische Erkenntnisse verändern das Weltbild und bringen die Autorität der alten Rezepte ins Wanken. In der Küche der Vernunft brodelt es gewaltig. Die Entwicklung verläuft europaweit und ergreift das gesamte Abendland. In England ist es Francis Bacon (1561-1626), der dazu anregt, durch reine, vorurteilslose Betrachtung der Natur den Dingen auf den Grund zu gehen. Und in Frankreich macht Descartes sogar den Zweifel zum Mittelpunkt seiner Erkenntnis. Nur eine einzige Gewissheit will er anerkennen, nämlich die Realität seines eigenen zweifelnden Seins: »Cogito ergo sum« - Ich denke (indem ich zweifele), also bin ich!
In Italien, damals der Zeit noch immer ein Stückchen voraus, hatte bereits Niccolo Machiavelli (1469-1527) die kühle Vernunft zum politischen Prinzip erhoben. In seinem Leitfaden für Polit-Manager, den er einfach »Der Fürst« nennt, redet er einem eiskalten, vernunftgesteuerten Pragmatismus das Wort. Das merkwürdige Modewort »zielführend«, das wir neuerdings dauernd benutzen, würde sicherlich auch seinem Wortschatz entsprungen sein, wenn er nicht gerade Italienisch gesprochen hätte. Denn zielführend muss nach Machiavelli jede politische Maßnahme sein, und aus Gründen der Staatsräson darf sie dabei auch gegen alle kirchlichen Dogmen und gegen alle Gesetze verstoßen. Der Fürst müsse in der Verfolgung seiner Interessen die Rolle eines guten Menschen ebenso kaltblütig spielen können wie die einer Bestie. Einzig die politische Vernunft und die kühle Berechnung würden darüber entscheiden, ob eine politische Tat erfolgreich sei oder nicht, mag sie auch noch so abscheulich sein.
Der Niederländer Hugo Grotius (1583-1645) vertrat die Ansicht, dass jeder Mensch mit seiner Vernunft die Gesetze Gottes erkennen könnte. Damit versuchte er versöhnlich eine Brücke zu schlagen zwischen biblischer Offenbarung und der Vernunft. An die Seite der Bibel und der Kirche tritt bei ihm als bekräftigende Autorität die Macht des Denkens hinzu, die es allen Menschen ermögliche, die natürliche, von Gott gesetzte Ordnung richtig zu erkennen. Dieser rational-religiöse Schmusekurs - gottgewollt und zugleich vernunftbegründet - wird das gesamte Jahrhundert und noch die Zeit danach prägen, manchmal bis in unsere Tage hinein: Besonders bei politischen Vorhaben bringt man auch heute neben dem Hinweis auf das Vernunftgebotene immer mal wieder den Willen Gottes oder die Vorsehung Allahs ins Spiel.
Die Rationalisten machen sich gleichwohl immer mehr von der Frage nach Gott los. Wir kennen das aus unserer modernen, säkularen Welt: Je mehr der Mensch auf seinen Verstand setzt, umso mehr scheint er Gott zu verlieren. »Verfall abendländischer Kultur« nennen das die einen, »geistige Befreiung von alten Zöpfen« die anderen. Im späten 17. Jahrhundert darf es tatsächlich eher als »geistige Befreiung« gelten. Und die trägt im Ergebnis schließlich einen großen Namen: Isaac Newton (1643-1727). Er ist der erste wirklich moderne Naturwissenschaftler, der all seine Erkenntnisse in nachprüfbare mathematische Formeln überführt, also in die Sprache der ratio. Wertfreie Beobachtung und wiederholbares Experiment - das sind die scharfen Waffen der beginnenden Neuzeit.
Welche Konsequenzen hat dieses großartige neue Denken für Gesellschaft und Politik?
Zunächst einmal diejenige, von der wir wissen, dass sie das übliche Ergebnis jeder großen Erfindung ist: die Hochschätzung unserer menschlichen Größe, die meist in Überschätzung mündet.
Noch heute sichtbarer Ausdruck davon ist das Schloss des französischen Sonnenkönigs Ludwig XIV. (1638-1715), das seit 1668 in dem kleinen, nahe Paris gelegenen Dörfchen Versailles innerhalb von 21 Jahren unter Beteiligung von 30 000 Arbeitern aus einem bescheidenen Jagdschloss heranwächst. Die Selbstfeier menschlicher Gestaltungs- und Leistungskraft findet ihren Höhepunkt in dem 73 Meter langen Spiegelsaal, in dem sich der kulturell veredelte Mensch (und das heißt damals: der von Adel) gleich in 17 gewaltigen Spiegelbogen selbst betrachten kann, und in der gigantischen Gartenanlage, in der sämtliche Bäume, Sträucher und Blumen dem Diktat der gestaltenden Vernunft unterworfen sind. Bäume sind da nicht mehr wild wuchernde, ungezügelte Naturereignisse, sondern vernünftig domestizierte Kegel, Kugeln oder Rechtecke. Spiegelungen des menschlichen Geistes und seiner gestaltenden Überlegenheit. Der Herrscherwille, der sich hier machtvoll in Szene setzt, besteht auf Exaktheit, Berechenbarkeit und glanzvoller Repräsentation, kurz: Der Mensch, der hier wandelt, ist davon überzeugt, dass sein überlegener Geist die Welt im Ganzen zu veredeln vermag, die primitive Natur vor allem. Ein Regent, der mit einem solchen Anspruch auftritt, regiert »absolut«. Man nennt daher diese Herrschaftsform treffend Absolutismus.
Und so ist es auch kein Wunder, dass dieser absolutistische Ludwig XIV. am Ende den Staatsbankrott Frankreichs nicht allein dadurch herbeiführt, dass er am prachtvollen Hofe während seiner Weltrekord-Regierungszeit von 72 Jahren fortwährend etwa tausend gaumenverwöhnte adelige Müßiggänger samt ihrer gefräßigen 20 000-köpfigen Entourage durchfüttert. Sondern vor allem dadurch, dass er ohne jede Hemmung sein vernünftiges Regierungskonzept zum Maßstab aller Dinge macht, sprich: durch kostspielige Kriege seine absolute Macht über alle Grenzen hinweg auszudehnen sucht. Und spätestens zum Ende seines Lebens 1715 scheitert. Ludwigs allzu hochfliegende Vision einer absoluten Vormachtstellung Frankreichs in Europa wird nie Realität.
Die zweite Konsequenz bringt politische Unruhe und gesellschaftliche Feuersbrünste, die, nur kurzzeitig gelöscht, immer wieder aufflackern und durch das gesamte Jahrhundert schwelen: Im Rückzugsgefecht der Religionen bleibt die Frage unbeantwortet, warum und inwieweit die göttliche Offenbarung jetzt noch Autorität besitzt. Die Vernunft soll regieren, gewiss. Aber die Kirche will es doch auch. Und Gott ist in dieser Zeit noch längst nicht »tot«, wie es im Hinblick auf das 19. Jahrhundert Friedrich Nietzsche behaupten wird. Spätestens da, wo die Vernunft nicht mehr weiterweiß, kommt in diesen Tagen immer noch Gott ins Spiel. Oft freilich mit recht unklaren und wankelmütigen Absichtserklärungen. Denn was denn nun wirklich gottgewollt sei, wird im weiteren Verlauf der Weltgeschichte sehr unterschiedlich beantwortet werden, je nach Standpunkt und Truppenstärke.
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