Dr. Daquin macht sich also ans Werk und zieht dem pflichtgetreuen 49-Jährigen zunächst ohne jede Betäubung alle Zähne des linken Oberkiefers, was allerdings zu einem eiternden Abszess und einer Knochengewebsentzündung führt. Die darauf folgende Behandlung ist radikal: Dr. Daquin zieht alle restlichen Zähne des Oberkiefers, durchbricht dabei aber bedauerlicherweise das Gaumenbein zum Nasenraum. Mit ärztlicher Korrektheit notiert der Mediziner, dass er ganze 14-mal das Loch im Gaumen mit einem glühenden Eisen ausgebrannt habe. Und sicher ist sicher: Bald danach folgt die Extraktion sämtlicher Unterkieferzähne. Mit einem kleinen malheur allerdings: Der Kiefer zerbricht.
Ein ärztliches Missgeschick erzeugt das nächste: Die Tatsache, dass Ludwig in seinen letzten Lebensjahrzehnten alle Speisen un-zerkaut herunterschlucken muss, führt zu chronischen MagenDarm-Problemen. Kein Wort taucht in Dr. Daquins Tagebuch so oft auf wie das Wort vapeur - Blähung. Das zweithäufigste Wort ist »Klistier«: Fast täglich werden dem Sonnenkönig Einläufe aus einem Gemisch von Eibischwurzeln, Wollkrautblättern, Leinsamen, Rosenwasser und süßem Mandelöl verabreicht. Und was der König vormacht, machen alle nach. Einläufe à la Louis Quatorze sind bald groß in Mode. So sehr, dass im Februar 1673 ein gewisser Jean-Bap-tiste Poquelin, besser bekannt unter seinem Künstlernamen Molière (1622-1673), in Paris ein Theaterstück aufführt, das später ein Welterfolg wird, weil es den ungesunden Gesundheitswahn der Zeit aufs Korn nimmt: »Der eingebildete Kranke«.
Schon ein paar Tage nach der Uraufführung aber ist auch er, der ironischste Vertreter einer Gesundheitsreform, tot. Doch die Erkenntnis, die wir für uns aus dieser ganzen Geschichte ziehen können, ist recht tröstlich: Lieber ein europäischer Habenichts im 21. Jahrhundert sein als ein Sonnenkönig im 17.
Gezweifelt an der Kompetenz seiner Ärzte hat Ludwig übrigens nie, auch nicht, als sie ihm später in einer abenteuerlichen Operation ein Geschwür am Enddarm herausschnitten. Gezweifelt hat der Sonnenkönig ohnehin kaum. Am ehesten noch am Ende seines Lebens, als er mit einer schmerzhaften Blutvergiftung im Bein auf dem Sterbebett lag. Im Gespräch mit seinem Urenkel und Nachfolger zog er Bilanz und gestand doch einen Kardinalfehler ein: »Ich habe den Krieg zu sehr geliebt. Ahmen Sie mich darin nicht nach!«
Damit hatte er ebenso richtig wie selbstkritisch den schwächsten Punkt seiner Regierung getroffen. Seine vielen Kriege und das stehende Heer verschlangen tatsächlich Unsummen und führten letztlich doch nicht zur angestrebten Vorherrschaft in Europa. Gegen Spanien und Holland hatte Ludwig langwierig, aber am Ende ohne großen Erfolg gekämpft, aber die »Reunionsversuche«, also die angestrebte Rückführung von Gebieten, auf die Frankreich mit Hinweis auf graue Vorzeiten abenteuerlichste Ansprüche erhob, brachten immerhin das Elsass mit Straßburg ein. Nach dem Spanischen Erbfolgekrieg, in dem es um die Neubesetzung des vakanten spanischen Throns ging, wird mit dem Utrechter Frieden 1713 ein ganz neues Kapitel politischer Konfliktlösung in Europa aufgeschlagen. Zum ersten Mal spielen nicht mehr dynastische Ansprüche der Herrscherhäuser die erste Geige bei der politischen Neuorientierung, sondern der Vertrag soll, wie es ausdrücklich heißt, »zur Herstellung des Gleichgewichts zwischen den Mächten« dienen. Das altertümliche »Recht des Blutes« tritt jetzt zurück hinter die vernunftgesteuerte, rational begründete Gestaltung von Politik. Ein Fortschritt, dem sich selbst Frankreich nicht verschließen kann.
Zumal da es pleite ist. Die Kriege hatten die Ökonomie außer Kurs gesetzt.
Dabei ist es eine Ironie der Geschichte, dass ausgerechnet im absolutistischen Frankreich die Idee einer vernünftigen Marktwirtschaft ihren Anfang genommen hat.
Jean-Baptiste Colbert (1619-1683) heißt der Mann, der die Theorie des Merkantilismus entwickelt. Er erkennt mit klarem kaufmännischen Sachverstand, dass das ökonomische Glück eines Staates hauptsächlich von einem Faktum abhängt: Ein Staat muss einfach mehr ausführen, als er einführt. Diese Vorgabe, der heutzutage unsere deutschen Politiker immer noch zielstrebig nacheifern, während andere Staaten, wie etwa die USA, sie regelrecht in den Wind schlagen, soll laut Colbert der ultimative Schlüssel zu mehr Wohlstand sein.
Die erste große ökonomische Erkenntnis ist keine Milchmädchenrechnung: »Wer durch seiner Hände Arbeit mehr Werte schafft, als er selbst verbraucht, wird über kurz oder lang in wachsendem Wohlstand leben«, so lehrt Colbert. Und wir nicken eifrig.
Die Wirtschaftspolitik unter Ludwig folgt zunächst auch erfolgreich diesem schlüssigen Konzept. Der Staat nimmt massiv Einfluss auf die wirtschaftliche Entwicklung. Um verkaufbare Produkte im eigenen Lande herzustellen, bedarf es in erster Linie vieler Rohstoffe. Die ersten Kolonien entstehen jetzt, in Nordamerika, Vorderindien, Indochina, Madagaskar. Eine eigene Handelsflotte läuft vom Stapel, eine mächtige Kriegsflotte entsteht zu deren Schutz. Zum ersten Mal wird ein regelrechter Staatshaushalt aufgestellt, und man folgt dem Finanzplan Colberts, dem es tatsächlich gelingt, einen Ausgleich zwischen Einnahmen und Ausgaben zu erwirtschaften. Warum aber dieses ebenso clevere wie zunächst auch erfolgreiche Konzept am Ende doch nicht aufgeht, das ist ein Lehrstück in politischer Ökonomie, das uns besonders heute interessieren sollte.
Es ist ein verhängnisvoller Automatismus, der zuletzt tatsächlich in die soziale und wirtschaftliche Katastrophe führt. Um im Ausland mehr Waren zu verkaufen, muss man die Preise niedrig halten. Gewiss, die Kolonien mit ihren Rohstoffen kann man zu diesem Zwecke ausbeuten, ohne dafür zur Rechenschaft gezogen zu werden. Aber konkurrenzfähige Erzeugerpreise bedeuten auch: Die Löhne der heimischen Arbeiter müssen geringfügig bleiben. Null Prozent Lohnsteigerung! Damit sich die Arbeiter aber bei niedrigen Löhnen mit ausreichenden Nahrungsmitteln versorgen können, muss man die Preise für Agrarprodukte auf geringem Niveau einfrieren. Der Binnenhandel ist damit preisstabil, aber undynamisch. Die Deckelung der Lebenshaltungskosten hat zur Folge, dass die Agrarproduzenten, also die Bauern und damit die große Mehrheit des Volkes, vom Aufschwung des Exports in keiner Weise profitieren. Sie dürfen von Staats wegen nur niedrige Erzeugerpreise verlangen, die teilweise unter den Produktionskosten liegen. Bei ihnen und bei den Verbrauchern kommt der Aufschwung nicht an. Die Bauern verarmen, nur die reichen Exporteure werden noch reicher. Die Schere zwischen Arm und Reich öffnet sich dramatisch, weil die Exportgewinne in nur wenige Taschen fließen. Und dann vernichten noch Ludwigs Kriege riesige Summen des Volksvermögens, insbesondere der zwölf Jahre währende Konflikt um die spanische Erbfolge. Denn Soldaten und Waffen verbrauchen reichlich Wirtschaftsgüter, ohne neue zu schaffen.
Mit der Einführung von Papiergeld versucht man den Staatsbankrott gerade noch abzuwenden - und scheitert mit diesem Dünnbrettbohrer-Konjunkturpaket. Frankreich ist schließlich bankrott, zumal da der reiche Adel immer noch keine Steuern zahlen will. Angesichts einer Finanzkrise, die den überwiegenden Teil der Bevölkerung ins Elend stößt, verzichtet der Adel auf kein einziges seiner Privilegien. 74 Jahre nach Ludwigs Tod wird er dafür eine blutige Quittung bekommen.
28. König sein ist schwer - »erster Diener« noch viel mehr
Dass er sein Schloss Sans souci, »Ohne Sorge«, nannte, war reines Wunschdenken. Er, der nur ungern irgendetwas aus der Hand gab und sogar die Entwürfe für sein Schloss selbst zeichnete, hat nur wenige Tage seines Lebens ohne Sorgen zugebracht: Friedrich der Große (1712-1786). Daran muss man unweigerlich denken, wenn man heute durch die hübsch restaurierten Barockräume des Schlosses Sanssouci bei Potsdam schlendert.
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