Und Richelieus Nachfolger Kardinal Mazarin (1602-1661) perfektioniert als Vormund und Berater des jungen Ludwig noch weiter den Ausbau der königlichen Macht gegen den schwindenden Einfluss der drei Stände, in die man das Staatswesen traditionell einteilt: Adel, Geistlichkeit und Dritter Stand, d. h. das Volk, das von diesem Zeitpunkt an noch genau 180 Jahre braucht, um endlich »Liberté, égalité, fraternité« (Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit) zu rufen.
Zu dieser Zeit besteht das Volk noch zu neunzig Prozent aus Bauern, von denen der Schriftsteller La Bruyère berichtet, dass sie mit der Erde eins seien, »die sie mit unermüdlicher Hartnäckigkeit durchwühlen: schwarz, fahl und sonnenverbrannt. Und nachts ziehen sie sich in ihre Schlupfwinkel zurück, wo sie ihr Leben von schwarzem Brot, Wasser und Wurzeln fristen ...«.
Die einen leben im Schatten, die anderen leben im Licht. Besser gesagt: im Glanz des »Sonnenkönigs«, als den sich Ludwig XIV. gerne bezeichnen lässt - seit genau dem Tage, da er als lieblich hergerichteter 14-Jähriger in dem »Ballett der Nacht« in der Rolle des Sonnengottes Apoll vor seinem begeisterten Hofstaat über die Versailler Bühne tänzelt. Das ist ganz bestimmt ein besonderer Geschmackstest für Gourmets gewesen, an dem wir als Zeitreisende liebend gern leibhaftig teilgenommen hätten.
'Was für ein Bild! Was für ein Mannsbild! Was für ein Bild von einem Mann! Und welch eine Perfektion kultureller Verfeinerung. Allein schon für dieses Portrait des Malers Hyacinthe Rigaud lohnt Ihre Reise nach Versailles, lieber Leser. L’état c’est moi in vollendeter Gestalt. So sieht ein wirklich prachtvoller, fleischgewordener Staat aus.
Und dieser Staat zeigt selbstbewusst Bein. Weißbestrumpftes Bein, das den Einblick fast bis in den Schritt erlaubt, ein Zeichen höchsten Adels. Die blutroten Haken an den Schuhen sind übrigens keineswegs bloß eine Art modischer dernier cri des 17. Jahrhunderts. Sie sind echte Rangabzeichen genau wie alles andere, was Ludwig schmückt: das Prunkschwert, der hermelingefütterte Herrschermantel, mit dem Blau und den Lilien der Bourbonen, das Königsszepter und die lässig beiseitegelegte französische Königskrone, so als sei es mit ihr allein noch lange nicht getan. Und dann noch die ungeheure Haarpracht, die uns offenbar so etwas wie Vitalität und Potenz des Trägers suggeriert, wenn wir den allerneuesten Ergebnissen der Partnerforschung Glauben schenken.
Bei dieser Präsentation wird alles aufgefahren, was uns einen Menschen zum Idol macht. Alle sind angezogen von diesem SuperMagneten, alle wollen diese Installation überirdischer Kultur leibhaftig sehen, ja sie vielleicht sogar irgendwann einmal berühren dürfen. Und wie bei einem originalen Kunstwerk, für das man Millionen zu zahlen bereit ist, anstatt sich mit einer wenige Euro teuren Reproduktion zu begnügen, so ist es auch mit diesem Ludwig: Die tatsächliche Begegnung mit dem Original verheißt eine Art Funkensprung des Göttlichen. Dieser Staat als Mensch garantiert seinen Untertanen bei jedem seiner Auftritte eine wohlige Gänsehaut und das physische Erlebnis eines Staates. Und wie sehnsüchtig selbst heute noch nach diesem Glück der imperialen Anschauung gestrebt wird, beweisen uns die hohen Einschaltquoten bei königlichen Hochzeiten.
Solche Performance ist keineswegs eitel. Sie ist politisches Programm. Mit so was macht man erfolgreich Weltpolitik. Die Idee des Zentralismus ist dabei eine totale: Wie am Hof von Versailles der französische Adel zusammengeballt wird, um damit besser kontrollierbar zu sein, so versammelt sich in der Gestalt Ludwigs alles, was Staat ist. Es ist ein Konzept, dem heute alle Werbestrategen huldigen, ohne die Qualität dieses Symbols auch nur annähernd zu erreichen: Ludwig ist der Markenartikel schlechthin. In ihm werden alle Träume, Sehnsüchte und Wünsche lebendig. Ludwig ist die Projektionsfläche für alles, was das Leben schön macht.
Und er ist ein politisches Talent. Genial, wie der 23-Jährige gleich nach dem Tod seines führenden Ministers Mazarin auf eine Neuernennung verzichtet und im Handstreich dessen Macht übernimmt. Mutig und voller Selbstvertrauen die Entscheidung, alle übrigen Minister zu Laufburschen zu degradieren und ihnen mit klaren Worten ihren Job zu erklären: »Sie werden mich mit ihrem Rat unterstützen, wenn ich Sie befrage. Ich untersage Ihnen, irgendetwas, und sei es auch nur einen Pass, ohne meinen Befehl zu unterzeichnen.« Klug die Einsetzung von dreißig begabten Beamten, sogenannten »Intendanten«, von niedrigem Stand, aber mit umso höherer Begabung. Raffiniert, den gesamten Adel des Landes dadurch von Unzufriedenheit, Rebellion und Intrige abzuhalten, dass man den Dienst bei Hofe zu seiner einzigen und abendfüllenden Beschäftigung macht. Und ebenso fantasievoll wie frech, alle Macht zusammenfließen zu lassen in einem großartigen, zentralen Symbol, das in der Kulturgeschichte so oft vergöttlicht worden ist und hier nun einzig der Selbstvergoldung des Herrschers dient: das Bild der Sonne, die mit ihren Strahlen alles erwärmt, was ihr nahekommen darf. Denn streben wir nicht alle nach einem Platz an der Sonne?
Die Konsequenz dieses Symbols hat Ludwig voll ausgelotet: Sogar der königliche Tagesablauf entspricht dem Lauf der Sonne. So ist das morgendliche Lever um acht Uhr, die Erhebung des Königs vom Nachtlager, schon einer der Höhepunkte des Tages und unterliegt einem exakten Ritual. Ebenso wie das Zubettgehen. Wer, wann, wie dem König das Nachthemd, die Perücke oder gar die Halsbinde reicht (es gibt da einen königlichen Halsbandverwahrer von höchstem Adel), ist bis ins kleinste Detail geregelt.
Es ist wie eine gigantische Theateraufführung, bei der das Publikum »interaktiv« ist. Und was kann man uns Menschen Schöneres geben als das Gefühl, auch eine wichtige Rolle zu spielen? Die Macht des großen Symbols, die Macht der sinnlichen Anschauung und die Macht der rationalen Ordnung gestalten diesen Staat.
Und nicht zuletzt auch der Fleiß seines durchaus pflichtbewussten Monarchen. Denn Ludwig arbeitet wirklich. Nach der ausgedehnten Toiletten-Performance und dem Frühstücksritual sitzt er am Schreibtisch. Die »Staatsraison«, die er selbst erfunden hat, erfordert das. Nahezu alles regelt er selbst. In seinem letzten Regierungsjahrzehnt ist seine beratende Ministerriege auf gerade mal drei Personen zusammengeschrumpft. Und dass Ludwig durchaus seine eigene Klugheit zum wichtigsten Berater ernennt, beweist der Brief, den er an seinen Enkel schreibt, als der sich zum König von Spanien aufschwingen will:
»Richte alle Deine Aufmerksamkeit auf Deine Regierungsgeschäfte. Vernachlässige sie niemals um des Vergnügens willen, schaffe Dir eine Lebensordnung, die genau die Zeit bestimmt, die der Erholung und Zerstreuung dienen soll. Begünstige niemals die Menschen, die Dir am meisten schmeicheln, sondern halte etwas auf die, die um des Guten willen Dir zu missfallen wagen. Höre im Anfang möglichst viel zu, bevor Du entscheidest. Sei freundlich zu jedermann und sage niemandem etwas Kränkendes.«
In seiner Treue zur eigenen Staatsraison ist Ludwig kompromisslos. Und wenn hundert Jahre später der preußische König Friedrich II. sehr fortschrittlich von sich sagen wird: »Ich bin der erste Diener meines Staates«, so könnte Ludwig mit Fug und Recht von sich behaupten: »Ich bin der erste Diener meiner selbst!«
Ein besonders krasses Beispiel dafür ist die Ergebenheit, mit der er dem medizinischen Fitnessprogramm seiner Ärzte Gehorsam leistete, wenn es darum ging, die königliche Glorie, seine gloire, zu erhalten: Nicht ganz unberechtigt sah man in dieser Epoche, in der Mundhygiene noch ein Fremdwort war, die Zähne als Hauptübeltäter für viele chronische Leiden und körperliche Gebrechen an. Der Satz: »Nur die Schmerzen des Todes sind schlimmer als die der Zähne« war ein geflügeltes Wort. Um nun die Schaffenskraft des Monarchen ungebrochen zu erhalten, erschien es notwendig, spätestens mit dem 50. Lebensjahr dem König die Zähne zu ziehen. Sein Leibarzt Dr. Daquin notiert in sein Tagebuch, die Empfehlung dieser »Zahnkur« habe dem König zwar nicht besonders gefallen, aber: »Für seine königliche Glorie sei er zu allem bereit, sogar zum Sterben.«
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