Überhaupt: Wenig hat so intensiv auf die weitere deutsche Geschichte eingewirkt wie diese hundert preußischen Jahre zwischen 1640 und 1740. Hier liegt der Schlüssel für vieles, was dann kam. Für die großartigen Leistungen, aber auch für die schrecklichen Abgründe.
29. Wie man sein Reich aufmöbelt
Hirngespinste können hartnäckig und zählebig sein. Wer ist bloß auf die krude Idee gekommen, dass die Zuwanderung von Migranten eine Gefahr für den Staat sein könnte?
Vor 250 Jahren hätte man in Preußen über einen solch merkwürdigen Gedanken ratlos den Kopf geschüttelt. Der wachsende Erfolg des Königreichs war doch gerade auf den ungebremsten Zuzug fremder Menschen gegründet. 1725 war bereits jeder fünfte Bewohner ein Zuwanderer, jeder dritte Offizier im Heer ein Hugenotte. Jedem leuchtete damals ein: Die Menschen sind das eigentliche Kapital eines Staates. Denn sie bringen ihre Arbeitskraft mit, sie zahlen Steuern, sie fördern durch ihren Verbrauch den Anstieg der Produktivität, sie kreieren neue Ideen, sie verstärken das Heer und erhöhen das Ansehen und die Bedeutung eines Landes und ihres Landesherrn.
Der Schlachtruf aller aufstrebender Staaten zu dieser Zeit heißt: »Peuplierung«, abgeleitet vom französischen peuple, das »Volk«. Das hört sich ein wenig wie Möblierung an, und die Herrscher dieser Zeit haben es wohl auch so ähnlich verstanden: Nur durch seine Innenausstattung wird ein leerer Raum zu einer wirklichen Wohnung, ein Staat zu einer Nation. Und nur durch Peuplierung war das zu schaffen, was Preußen schließlich erreicht hatte: eine Machtausdehnung sondergleichen, in militärischer wie in wirtschaftlicher Hinsicht. Als unerlässlich erschien es bei diesem Prozess freilich, von vorneherein auf eine einheitliche Amtssprache zu setzen und ein übergreifendes nationales Bewusstsein zu schaffen - eine Erkenntnis, zu der sich auch heute mehr und mehr Integrations-Bemühte durchringen.
Vor allem sind es in der Zeit Friedrichs natürlich auch die Kriege, die als mächtige Integrationsbeschleuniger wirken, indem sie ein kräftiges Nationalgefühl aus Feuer und Blut schmieden. Dabei ist der von Friedrich dem Großen inszenierte Aufstieg Preußens keineswegs als konstant aufsteigende Erfolgslinie zu beschreiben, sondern vielmehr als ein typisches Ergebnis der politischen Zerrissenheit Europas zu dieser Zeit: Ständig steht alles auf der Kippe, Erfolge können sich blitzschnell in Rückschläge verwandeln und andersherum, wechselnde Koalitionen und Bündnisse verändern die Lage oft über Nacht, kleine Zufälle und politische Schicksalsschläge haben weltpolitische Konsequenzen. Alles ist im Fluss. Jeder Staat sucht in diesem vielstimmigen Chor immer wieder neu seine Position zu behaupten. Die Erfolgsgeschichte Preußens im 18. Jahrhundert ist ein Lehrstück über die Schwierigkeit der einzelnen Nationen, sich selber zu finden.
Alles beginnt, wie schon im Spanischen Erbfolgekrieg, mit dem Tod eines Monarchen. Kaiser Karl VI. stirbt 1740 in Wien. Da ein männlicher Erbe fehlte, hatte er vorausschauend mit der sogenannten Pragmatischen Sanktion bereits 1713 ein Gesetz geschaffen, demzufolge in den Gebieten seiner Herrschaft auch die weibliche Erbfolge gelten sollte. So kommt es, dass zwei Monate nachdem der 28-jährige Friedrich II. den preußischen Königsthron bestiegen hat, ein 23-jähriges, politisch völlig unerfahrenes Mädchen in den Besitz der habsburgischen Krone gelangt: Maria Theresia (1717-1780). Sie wird sich in den vierzig Jahren ihrer Regentschaft mit ihren 16(!) Kindern nicht nur als eine der erfolgreichsten Mütter aller Zeiten erweisen, sondern auch als beständige und kluge, wenn auch nicht eben fortschrittliche Herrscherin.
Aber das freilich ist jetzt noch nicht abzusehen, und Friedrich wittert die Chance, dem kaiserlichen Mädel den Machtbereich Schlesien abzunehmen und seinen eigenen Einfluss auszudehnen. Kaum muss er mit Widerstand rechnen und geht aus der Schlacht des Ersten Schlesischen Krieges 1741 auch tatsächlich als Sieger hervor. Wieder ein neues Wohnzimmer im Hause Preußen!
Ob moralisch oder nicht - den Siegern gehört die Welt: Rasch findet der dynamisch vorpreschende preußische König jetzt Bundesgenossen, die an der Seite des jungen Gewinners ebenfalls profitieren wollen. Frankreich erhofft sich eine nachhaltige Schwächung seines Erzfeindes Habsburg, will insgeheim aber auch keine andere deutsche Macht stärken. Sachsen hofft darauf, sich vom österreichischen Territorium bei guter Gelegenheit eine Scheibe abschneiden zu können. Ebenso Bayern, dessen Kurfürst darüber hinaus mit der Kaiserkrone liebäugelt. Nur England hält zu Österreich, aber auch nur, um eine mögliche Stärkung Frankreichs zu verhindern, besonders in Hinblick auf den gärenden Kolonialkonflikt in Nordamerika und Indien.
Die politische Großwetterlage wird in dieser Zeit einzig und allein von Partikularinteressen bestimmt. Eine gemeinsame Strategie gibt es nicht. Das gilt auch für Friedrich, der nach seinem Machtgewinn in Schlesien kurzerhand aus dem Bündnis gegen Österreich ausscheidet, weil sein Ziel erreicht ist. Der Ausstieg Preußens revitalis-iert aber sofort die Kräfte Österreichs, dem jetzt noch England-Hannover verstärkt zur Seite steht. Ein endgültiger Gewinn dieser Koalition würde freilich auch wieder den preußischen Besitz Schlesiens gefährden. So steigt Friedrich erneut in den Kampf ein, und am Ende dieses verlustreichen Zweiten Schlesischen Krieges 1748 einigt man sich: Österreich erkennt endgültig die Abtretung Schlesiens an Preußen an, dafür wird der Gatte Maria Theresias als Kaiser Franz l. bestätigt. Und ihren Friedrich feiern die Preußen ab sofort als »den Großen«.
Doch trotz verbreiteter Kriegsmüdigkeit steht der eigentliche Crash noch bevor. Weltpolitische Kniffligkeiten sind es, die jetzt das Kalkül der europäischen Mächte bestimmen, vor allem das von England und Frankreich. Mit England schließt Friedrich ein Bündnis, das jeden Angriff irgendeiner Macht auf Deutschland verhindern soll. Frankreich, in den amerikanischen Kolonien bereits arg von England bedrängt, plant hingegen, England mit Hilfe Preußens zu schwächen, und nur über das Territorium Friedrichs kann das englische Hannover erreicht werden. Vom Hoffnungsträger Preußen bitter enttäuscht wendet sich Frankreich nun nach drei Jahrhunderten latenter Gegnerschaft plötzlich dem Erzfeind Österreich zu: mit dem bitterbösen Ziel, Preußen gänzlich zu zerschlagen.
Das ist der Moment, von dem auch Russland unter der Zarin Elisabeth geträumt hat, besteht jetzt doch eine gute Chance, ein Stückchen Westen vom territorialen Kuchen abzubekommen und auf der Weltkarte ein bisschen nach links vorzurücken, eine ständige Sehnsucht Russlands, die sich viel später erst Stalin so richtig erfüllt. Angesichts des mächtigen Gewitters, das da am politischen Horizont aufzieht, wagt Friedrich die Flucht nach vorn und führt einen Präventivschlag gegen Sachsen.
Ein siebenjähriger Weltkrieg beginnt. Friedrich gegen den Rest der Welt. Als »Mirakel von Brandenburg« ist aber in die Geschichtsbücher eingegangen, was nach sieben Jahren heftigster und kostspieligster Gegenwehr den schwer gebeutelten Preußen in höchster Not schicksalhaft widerfährt: Zarin Elisabeth stirbt. Ihr Nachfolger Peter III. jedoch ist ein großer Anhänger Friedrichs und ein Verehrer des preußischen Militärs. Er beendet sofort den Krieg mit Preußen. Die Weltkriegsallianz zerbricht. Das ausgelaugte Preußen ist in letzter Minute gerettet. So hilft auch manchmal Gevatter Tod in Sachen heikler Weltpolitik.
Können Sie sich eigentlich vorstellen, was es für ein Land heißt, wirklich arm zu sein? Damit ist nun nicht die läppische Staatsverschuldung gemeint, die heute die USA oder gar unser Land bedroht. Was sind schon die gut 1500 000 000 000 Euro, die Deutschland im Augenblick den Gläubigern der Welt schuldet. Wir haben immer noch zu essen und zu trinken.
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