Und politisch sympathisierten viele deutsche Fürsten mit Luther. Vor allem sein Landesfürst Friedrich der Weise (1486 bis 1525), der dann ja auch den geächteten und vogelfreien Rebell auf die sichere Wartburg »entführen« ließ, um ihn aus der Schusslinie zu nehmen. Dabei hatte die Liebe zu Luther nicht immer nur religiöse Gründe. Lange schon murrten die Fürsten, dass mit den Ablassgeldern enorme Summen nach Rom flossen - und somit nicht in ihre eigenen Taschen. Außerdem spekulierten sie heimlich darauf, dass ihnen bei einer erfolgreichen Reformation der reiche katholische Kirchenbesitz zufließen würde.
Der Habsburger Karl V. war zudem ein junger ehrgeiziger Kaiser, der sich mit zahllosen Problemen herumschlagen musste. Er hatte von seinem Großvater Maximilian I. (1486-1519), den man oft den »letzten Ritter« genannt hat, ein Riesenreich in Zeiten des Umbruchs geerbt. Als gebürtiger Burgunder sprach er kaum ein paar Brocken Deutsch, musste aber die selbstbewussten deutschen Fürsten bändigen. Neben Deutschland, den Niederlanden, Spanien und Österreich rechnete neuerdings auch Amerika zu seinem Imperium, in dem nun die Sonne nicht mehr unterging. Nur das gefestigte Frankreich und England entzogen sich seiner Befehlsgewalt. Mit Frankreich aber gab es ständig kriegerische Reibereien, da sein König Franz I. Italien ebenso beanspruchte, wie Karl es tat.
Versetzen Sie sich einmal in die Situation des jungen Karl, und Sie werden verstehen, dass jeder Beruf besser ist als der des Kaisers in einem inzwischen diffusen Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation. Karl befand sich ja sozusagen im Dauerclinch: im Kampf gegen die deutschen Fürsten, die mit Luther sympathisierten und heimlich gegen den Papst Front machten; zeitweise auch im Kampf gegen den Papst, den er in Worms noch dadurch glücklich zu machen suchte, dass er über Luther die Reichsacht verhängte; im Kampf gegen den Erzfeind Frankreich; vor allem aber gegen die Türken, die 1529 bis vor die Tore Wiens gefährlich vorrückten, nachdem sie schon ganz Ungarn verheert hatten. Bei so viel Regierungsstress ist es kein Wunder, dass dieser Weltenherrscher sich 1556 frustriert ins spanische Kloster Yuste zurückzog und die Herrschaft über Spanien und die Niederlande seinem Sohn Philipp, die Kaiserkrone aber seinem Bruder Ferdinand überließ.
In Yuste soll er fast täglich an der Verbesserung einer technischen Innovation herumgebastelt haben: an Uhren, deren Mechanismus er in absoluten Gleichlauf zu setzen suchte. Letztlich vergeblich, was ihm aber als tröstliches Symbol dafür galt, dass nichts auf dieser Welt in Einklang zu bringen sei - die Uhren nicht und schon gar nicht die Menschen.
Und wenn Sie sich noch tiefer in den Seelenzustand eines frustrierten Kaisers der Lutherzeit einfühlen wollen, dann sollten Sie jetzt unbedingt in ein Musikgeschäft gehen. Da finden Sie unter der Rubrik »Moderne Klassik« etwas ganz Passendes, das der ungarische Komponist György Ligeti 1962 unter dem Titel »Poème Symphonique« veröffentlicht hat: ein Konzertstück für hundert unterschiedlich tickende Metronome. Genauso verrückt muss bereits die Welt in Karls Ohren »getickt« haben.
Übrigens hat auch Luther ganz ähnliche disharmonische Erfahrungen gemacht. Aber er hatte wohl die stärkeren Nerven. Dauernd hatte er mit der Uneinigkeit seiner Protestanten zu kämpfen.
Da waren die Täufer, die als »Wiedertäufer« verspottet wurden und denen Luthers Reform nicht weit genug ging. Sie forderten eine staatsfreie Kirche und lehnten die Säuglingstaufe als unbiblisch ab. Taufen lassen soll man sich erst als mündiger Erwachsener, meinten sie.
Luthers reformatorischer Kollege Ulrich Zwingli (1484 bis 1531) sorgte zwar in Zürich dafür, dass diese furchtbaren Ketzer sich nicht ausbreiteten, widersprach aber Luther seinerseits heftig in einem anderen Punkt: in der Abendmahlslehre.
In Genf gab es einen Reformator der zweiten Generation namens Johannes Calvin (1509-1564), der auf überstrenge Kirchenzucht setzte, jeden Luxus und jede Leichtigkeit des Herzens als Sünde brandmarkte und außerdem zur radikalen Ausrottung aller Hexen aufrief. Auch ihm war Luther viel zu lasch.
Selbst im heimischen Wittenberg begannen dessen radikale Anhänger, die schönen Kunstwerke aus den Kirchen herauszureißen und damit revolutionäre Freudenfeuer zu entfachen. Keine Kompromisse! So eine Reformation darf keine halbe Sache sein, meinten sie. Die leibeigenen, unzufriedenen Bauern wiederum missverstanden Luthers Lehre »Von der Freiheit eines Christenmenschen« als Aufruf zum gesellschaftspolitischen Umsturz. Genau wie die verarmten Reichsritter, die im beginnenden Kampfgetümmel frische Morgenluft witterten und ihre sterbende Mittelalterwelt kriegerisch reanimieren wollten - fast ähnlich dem deutschen Adel zu Beginn des 20. Jahrhunderts, als dieser dem Militarismus verhängnisvoll Vorschub leistete, weil das Kriegsspiel seine eigentliche Domäne war und ihm seine Daseinsberechtigung verlieh.
Luther aber widerstand weitgehend jeder Radikalisierung seiner Bewegung. Das mag ein wesentlicher Grund dafür sein, warum er zuletzt im Bett starb und nicht auf dem Scheiterhaufen oder durch das Schwert. Das Rezept seines Erfolgs waren Verlässlichkeit und Standhaftigkeit, Bemühung um Ausgleich, Authentizität seiner Absichten, Abneigung gegen Gewalt - auch wenn er hier und da aus taktischen Gründen moralisch versagt hat, etwa wenn er gegen plündernde Bauern und »geldgierige« Juden Front machte. Oder wenn er dem für ihn politisch wichtigen Landgrafen von Hessen die Ehe mit zwei Frauen erlaubte, wie bei Abraham in der Bibel. Der Leibarzt des Fürsten ist mit dem Argument überliefert, der potente Graf habe drei Hoden und benötige daher eine entsprechend reichliche Versorgung.
Am starren hierarchischen Herrschaftsprinzip seiner Zeit hat Luther, der Entdecker der »Freiheit eines Christenmenschen«, aber zeitlebens nie gerüttelt. Ein König sei ein König, ein Knecht ein Knecht. Jeder an dem Ort, wo Gott ihn hinstellt. Und auch in Fragen der »richtigen« Religion ließ er nicht mit sich reden. Luther war ein Mann in der Mitte zwischen Mittelalter und Neuzeit. Tief religiös, aber zugleich intellektuell erweckt. Das kritische Nachdenken über die Verhältnisse hat durch ihn einen ersten großen Schub erfahren. Aber universelle Menschenrechte und religiöse Toleranz zählen noch längst nicht zu seinen Erfindungen.
Ja, so etwas gibt es eben auch: Nicht nur Geld und Machtstreben verändern die Welt, wie man in unserer Zeit gern glaubt, manchmal sind es sogar redliche Gewissensgründe. Man kann aber auch aus noch ganz anderen Motiven zum Protestanten werden. Dafür ist Heinrich VIII. von England (1491-1547) ein gutes Beispiel.
Der englische König wollte nämlich nicht nur seine Eheschließungen - sechs sollten es am Ende sein - päpstlich genehmigt sehen, sondern sogar die Hinrichtungen seiner abgelegten Ehefrauen. Da der Papst jedoch die rabiate Ehepraxis von König Blaubart rügte, weil im Zuge der Gegenreformation auch in Rom die Sitten nun strenger wurden, löste Heinrich seine Kirche kurzerhand von der römischen ab. Er gründete 1533 seine eigene »Anglikanische Kirche«, eine Art Zwischending zwischen Katholizismus und Protestantismus. Der Papst schied als höchste Autorität der englischen Kirche aus, und an seine Stelle trat der Staat, natürlich in Gestalt seines obersten Herrschers. Reformation light sozusagen. Ein königlicher Federstrich reichte da noch aus, um die Fragen von Gott und Welt glattzuziehen.
Aber in der Menschheitsgeschichte zieht ein Federstrich manchmal einen dicken Klecks hinter sich her, wenn auch nicht an der Wartburg-Wand. Die Krise der Kirche, die noch wenige Jahrzehnte zuvor als einheitsstiftende Macht in Europa gewirkt hatte, wurde bald zur großen Krise der europäischen Politik. In England begann unter der Tochter Heinrichs, der »jungfräulichen Königin« Elisabeth I. (1533-1603), deretwegen übrigens die erste englische Kolonie in Amerika Virginia, die »Jungfräuliche«, getauft wurde, eine unerbittliche Jagd auf Katholiken, die sich noch immer zu Rom bekannten. Mit der Hinrichtung Maria Stuarts (1542-1587), der katholischen Königin von Schottland, erreichte der Religionskampf seinen vorläufigen Höhepunkt.
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