Die Museumsführer werden nicht müde, Ihnen und den anderen Besuchern immer wieder zu erklären, dass Luther eigentlich niemals mit dem Tintenfass geworfen habe, sondern dass »mit Tinte den Teufel vertreiben« nur symbolisch gemeint war. Mit seinen vielen Flugschriften, die ein halbes Jahrhundert nach Erfindung des Buchdrucks in hoher Auflage reißenden Absatz fanden, und mit seiner bahnbrechenden Bibelübersetzung habe er »den Teufel« vertrieben - und das meinte damals, Sie werden es ahnen, keinen anderen als den Papst! Mit Tinte also, gewiss. Aber niemals mit dem Tinten/ass!
Das ist wohl richtig, aber nicht romantisch. Wir wünschen uns aber meistens, dass die Geschichten um Luther romantisch sein mögen. Besonders am 31. Oktober, am Reformationstag, wenn wir feierlich in der Kirche sitzen und mit Orgelgebraus »Ein feste Burg ist unser Gott« singen. Für das Reformationspathos hat vor allem das 19. Jahrhundert gesorgt, damals, als wir Deutschen uns als Nation entdeckten. Als unsere Urururgroßväter stolz die deutsche Geschichte priesen und ihre Märchen und Mythen zu sammeln begannen. Als sie ihre Bauwerke in prachtvolle neugotische Gewänder kleideten. Und als Luther zu einem nationalen Helden und Schöpfer der deutschen Sprache gekürt wurde, mit GoldrandAbbildungen und kiloschweren Neuausgaben der Lutherbibel. Dabei war der Reformator Martin Luther (1483-1546) alles andere als ein Romantiker. Er war einfach ein Kind seiner Epoche, die als eine des »Grobianismus« bezeichnet werden kann: unaufgeklärt, brutal, abergläubisch, roh und einigermaßen unkultiviert.
Wie so oft spielt auch in der Geschichte von Luther und dem Papst das liebe Geld eine wesentliche Rolle. Weil die Päpste, die um 1500 in Rom hauptsächlich ihrer Macht und Pracht frönten, die alte Konstantin-Basilika durch einen prestigeträchtigen Weltwunderbau, nämlich den Petersdom, ersetzen wollten, benötigten sie eine üppige Finanzspritze.
Das Mal-, Bildhauer- und Architekturgenie Michelangelo hatte eine Kuppel von ungeheurer Dimension entworfen, der kein Architekturliebhaber widerstehen kann. Schon gar nicht ein Renaissance-Papst. So verwandelte Leo X. (1513-1521) das Ablasswesen, das seit dem frühen Mittelalter eigentlich dazu gedacht war, den tapferen Teilnehmern der Kreuzzüge göttliche Vergebung ihrer Sünden zu garantieren, in eine sprudelnde Finanzquelle.
Ablassbriefe, die gegen Geld Absolution von allen Sünden gewährten, überschwemmten Anfang des 16. Jahrhunderts Europa wie haussierende Wertpapiere. »Sobald das Geld im Kasten klingt, die Seele aus dem Fegefeuer in den Himmel springt«, reimten die Ablasshändler sehr werbewirksam.
Der unbedeutende Augustinermönch Luther in Wittenberg, der schon als Novize seinen Beichtvater unablässig mit der Frage nervte, durch welche Bußleistung er denn nun von seiner Sündhaftigkeit wirklich befreit werden könnte, ist entsetzt: Er will nicht akzeptieren, dass man ohne Reue, aber mit klingender Münze die Sündenvergebung erlangen könne. Seiner Meinung nach könne nur eines einen Sünder retten: die Güte Gottes. Und die sei nicht käuflich. Es komme vielmehr auf den rechten Glauben an. Auf den Glauben, dass es allein Christus sei, der mit seinem Tod am Kreuz die Erlösung der Menschen bei Gott erwirkt habe. Mit Geld lasse sich da gar nichts machen.
»Sola fide, sola scriptura, sola gratia, solus Christus«, also: nur durch den Glauben, nur durch die Heilige Schrift, nur durch die Gnade Gottes, Christus allein (durch seinen Opfertod) - mit diesen vier Grundsätzen ist die Essenz der lutherischen Theologie umrissen.
In der Konsequenz steckt in diesen vier Prinzipien aber nichts weniger als eine Kriegserklärung an die katholische Kirche! Denn nicht nur, dass Luther mit dem »sola fide« das Individuum mit seiner ganz persönlichen Entscheidung in den Mittelpunkt des christlichen Glaubens rückt und die »Institution Kirche« damit zur Nebensache erklärt - mit dem Hinweis auf die Bibel als die allein selig machende Richtschnur erklärt er auch sämtliche päpstlichen und amtskirchlichen Erlasse für Makulatur. Die leidigen Ablassbriefe sowieso.
Jeder sei ab sofort sein eigener Priester. Es bedürfe keiner institutionellen Vermittlung in Glaubensfragen. Überall und immer könne man mit Jesus Christus in Kontakt treten. Auch ein Priester sei nichts anderes als ein normaler Mensch, denn von »Priesterweihe« stehe überhaupt nichts in der Bibel. Und außer dem Abendmahl und der Taufe sei in der Heiligen Schrift überhaupt keines von den Sakramenten zu finden, die die Kirche so würdevoll und exklusiv austeile: kein Ehesakrament, keine Firmung, keine Totensalbung, kein Bußsakrament. Alles bloß kirchliche Erfindung.
Am 31. Oktober 1517 lässt Dr. Martin Luther seine gesammelte Meinung drucken. Das mit der Schlosstür, an die er trotzig seine Thesen genagelt haben soll, ist eine Legende. Und wenn er es doch getan hätte? Mutig wäre es, gewiss. Aber eigentlich ist es eher eine naive, unfreiwillige Heldentat. Denn für den Hochschullehrer Doktor Luther ist es einigermaßen selbstverständlich, das Grundsatzpapier bekannt zu geben, so wie es damals eben üblich war, wenn man eine akademische Disputation in einer Universitätsstadt vom Zaun brechen wollte. Mit dem Sturm, der dann von diesen 95 Thesen ausging, rechnete Luther nicht im Traum.
Beinahe war es schon ein alter Hut, was der Reformator da anmahnte. Bereits hundert Jahre zuvor hatte nämlich schon ein anderer ähnlich »protestiert«: der Prager Reformator Jan Hus (1369-1415). Damals war ihm diese Kritik an der mächtigen Kirche allerdings schlecht bekommen. Obwohl man ihm kaiserlichen Schutz für seine An- und Abreise zum Konzil von Konstanz zugesichert hatte, stellte man ihn doch noch während des Konzils 1415 auf den Scheiterhaufen.
Den unliebsamen Kritiker konnte man verbrennen, seine Botschaft nicht. Die berechtigte Empörung seiner Anhänger mündete in die furchtbaren Hussiten-Kriege, die halb Böhmen in Schutt und Asche legten. Danach wurden die Politiker und Kirchenleute etwas vorsichtiger, wenn es darum ging, schnellen Prozess zu machen und das Versprechen des »Freien Geleits« mir nichts, dir nichts zu brechen.
Aber auch Luther wurde 1521 vom 21-jährigen Kaiser Karl V. vor den Reichstag zu Worms zitiert. Mit der Aufforderung, seiner Irrlehre abzuschwören. Denn die Angelegenheit war eskaliert, nachdem der aufmüpfige Mönch die »Rote Karte« des Papstes, die Bannandrohungsbulle, öffentlich verbrannt hatte und darauf sogleich mit dem kirchlichen Bannfluch belegt worden war. Die heftige Reaktion Luthers auf den »Statthalter des Teufels«, wie er den Papst ab sofort nannte, war vor allem deswegen so provokant ausgefallen, weil es sich hier um eine wirkliche Liebesenttäuschung handelte: Luther glaubte, der Heilige Vater wüsste gar nichts von Amtsmissbrauch, Vetternwirtschaft und Ablassschacher. Mit der bitteren Erkenntnis, dass der Papst tatsächlich selbst hinter allem stecke, war Luthers fromme Ergebenheit in rabiaten Hass umgeschlagen.
Dass Luther schließlich sein - ebenfalls nur legendenhaft überliefertes - »Hier stehe ich und kann nicht anders!« dem Kaiser in Worms entgegenschleudern konnte, ohne sogleich auf dem Scheiterhaufen zu landen, hat vor allem zwei Gründe: den Buchdruck und die Politik.
Durch den Buchdruck mittels metallener, beweglicher Lettern war um 1450 von Johannes Gutenberg (1400-1468) das erste Massenmedium der Welt erfunden worden, das eine enorme Breitenwirkung entfaltete, vergleichbar dem heutigen Internet. Luther wusste von Anfang an alle Möglichkeiten des Mediums voll auszuschöpfen. Was heute Facebook leistet, bewirkten damals Luthers flott geschriebene Broschüren von kaum mehr als ein paar Dutzend Seiten, die die wesentlichen Elemente seiner neuen Lehre lauffeuerartig verbreiteten. Entsprechend rasch vergrößerte sich seine Anhängerschaft. Bereits vor dem Wormser Reichstag war Luther zu einem Promi aufgestiegen, den man nicht einfach gefahrlos hätte beseitigen können.
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