Er fand die Blätter zerfetzt und völlig durchnässt an der Steinmauer wieder. Jenseits der Einfriedung, durch Lücken in den ausladenden Bäumen gerade noch zu erkennen, bemerkte er eine kleine Straße, die zwar gepflastert, aber offenbar schon seit Jahren nicht mehr benutzt war. Der von der Sonne ausgebleichte Asphalt wies viele Risse auf, in denen wilde Gräser und Wolfsmilch sprossen. Ein verwittertes, schiefes und von Patronen durchsiebtes Holzschild wies die Straße als OLD BURWASH ROAD aus.
Und wieder spulte sein Gedächtnis Jahre zurück, bis zum Abgrund der Hölle, wo ...
... sie, mit einem Schlag hellwach, im Auto saßen. Der Rausch verflog und die Müdigkeit wich, weil ihnen allen ihre missliche Lage bewusst wurde. Auf dem Rücksitz fummelte Jake mit der Straßenkarte herum, die er beim Versuch, sie aufzuklappen, zerriss. Und während er mit der Karte kämpfte, kreischte er mit hoher, überdrehter Stimme: Wo sind wir überhaupt ? Was ist das für eine Straße ? Old Burwash, blaffte Scott zurück ... Old Burwash Road ...
Scott geriet ins Stolpern, fast wäre er hingefallen.
Und plötzlich war es so, als sei er durch die fragile Schicht gebrochen, die geistige Gesundheit von geistiger Umnachtung trennt. Das Summen in seinem Kopf wurde plötzlich ohrenbetäubend laut, verschluckte die Geräusche in seiner Umgebung und verzerrte sie gleichzeitig wie durch einen Lautsprecher: das leise Seufzen des Windes, das regelmäßige Tropfen des Regens, das Pochen seines Herzens, das gegen seine Rippen schlug. Als er sich bückte, um die Zeichnungen aufzuheben, schienen die Cartoons für einen Augenblick zum Leben zu erwachen. Körper in verschiedenen Stadien der Verwesung bahnten sich einer nach dem anderen mit den Schultern den Weg aus der bebenden Erde. Er meinte, sie zu hören und zu riechen. Dieser Moment war so irreal, dass er sich mit einem Ruck umwandte, um die Gräber hinter sich ins Visier zu nehmen.
Aber unter dem sterbenden Gras und den anwachsenden Regenpfützen lag die Erde völlig unberührt da und breitete den schweren Mantel des Todes über die Dahingeschiedenen.
Scott lehnte sich gegen die Mauer aus Feldsteinen, presste die klammen Finger gegen die Schläfen und wartete darauf dass sich das Hämmern in seinem Kopf endlich legte. Als es zu einem erträglichen Pochen abgeebbt war, stieg er über die niedrige Einfriedung und machte sich zitternd und mit großen, steifen Schritten auf den Weg durch die Old Burwash Road. Der spätsommerliche Regen ließ ihn bis ins Mark frösteln.
»Ist sie tot?«
Rund fünfhundert Meter westlich der Stelle, an der er über die Friedhofsmauer gestiegen war, blieb er stehen. Als er zu Boden schaute, meinte er, auf dem Asphalt ganz schwach einen fast kreisrunden Fleck zu erkennen.
Und dann stand Brian Horner hinter ihm und fragte wieder und wieder: »Ist sie tot? Ist sie tot?« Seine Stimme war schrill vor Entsetzen. »Ist sie tot?«
Kurz vor der Morgendämmerung standen sie im leichten Nebel herum, verängstigt und wie zu Standbildern erstarrt. Alle drei beugten sich über den steifen Körper des Kindes und sahen zu, wie sich die rote Pfütze, die den zarten Kopf wie ein Heiligenschein umgab, immer weiter ausbreitete. In ihrem hübschen, weißen Sommerkleid voller Rüschen und Spitzen lag die Kleine zusammengekrümmt auf der Seite. Ein Bein war völlig unnatürlich verdreht. Die Arme hatte sie vor sich gestreckt, als hätte sie noch versucht, sich irgendwo festzuhalten, während sie sterbend durch die feuchte Morgenluft gesegelt war. Sie hatte schneeweiße Söckchen getragen, aber am verdrehten Bein war das Söckchen halb vom Fuß gerutscht. Die Wucht des Aufpralls hatte sie auf der Stelle aus den frisch geputzten Sonntagsschuhen geschleudert. (In diesem Augenblick wurde Scott klar, dass es tatsächlich Sonntag war. Sie war bereits für den Kirchgang angezogen gewesen.) Ist sie tot ?
Das Kätzchen, dem sie nachgelaufen war, kam aus dem Schatten geschossen und miaute dabei zum Herzerbarmen -eine winzige, von Gott und der Welt verlassene Kreatur. Aber als der Wind das seidige Haar der Kleinen erfasste, sprang das Kätzchen munter vorwärts und schlug spielerisch nach den durcheinander wirbelnden silberweißen Strähnen.
Scott, der sich so fühlte, als müsse sein Kopf gleich platzen, kniete sich an ihre Seite und legte einen Finger auf ihre Halsschlagader. Jedes bisschen Empfindsamkeit, das er noch besaß, konzentrierte er auf die Fingerspitze. Dazu murmelte er innerlich Gebete, die er seit vielen Jahren, allzu vielen Jahren, nicht mehr gesprochen hatte.
Aber er konnte nichts spüren, nichts als weiche Haut und nachlassende Wärme. Als er sich zu seinen Freunden umdrehte, die im Hintergrund immer noch warteten und fast wie gesichtslose Silhouetten wirkten (wie eine Schar von Gespenstern, hatte er später gedacht - jetzt fiel es ihm wieder ein), standen Tränen in seinen Augen.
Er wandte sich wieder dem Kind zu und stellte dabei seltsam distanziert und mit medizinischer Nüchternheit fest, dass es ein Albino war. Gleich darauf geriet die Welt ringsum aus den Fugen und schwand aus seinem Blickfeld, als sich nach und nach Dunkelheit über ihn senkte. Und dann gruben sich kräftige Finger in seine Schultern, und die Stimme eines Wahnsinnigen schleuderte ihm hart und zischend irgendwelche Worte entgegen.
»Werd mir bloß nicht ohnmächtig, du Arschloch. Wir müssen hier weg, Mann, und zwar sofort. Das ist dir doch klar, oder?« Jake Laking. »Da hinten bei den Bäumen leuchtet irgendwas, ich nehm an, es ist das Außenlicht einer Veranda. Allerdings glaub ich nicht, dass uns irgendwer gesehen hat.« Seine bernsteinfarbenen Augen funkelten wie die eines Raubtiers. »Wenn wir hier bleiben, sind wir geliefert. Komm schon, steh auf. Sofort!«
»Er hat Recht, Scott«, sagte jemand mit schwankender Stimme. Brian. »Lieber Gott, er hat ja Recht... Bitte!«
Und er hatte wirklich Recht, oder? Hier bleiben war gleichbedeutend mit einer unvorstellbar harten persönlichen Katastrophe. Das Kind war tot - und für Tote kann man sowieso nichts mehr tun. Um sicherzugehen, tastete Scott nochmals nach der Halsschlagader des Mädchens. Immerhin war es ja möglich, dass er den lebenswichtigen Pulsschlag beim ersten Mal nicht richtig registriert hatte. Schließlich war er ja noch kein Arzt; das hier hatte er doch nur aus dem Fernsehen, verdammt noch mal. Da machten sie das immer, selbst in Western.
Aber da war nichts, war kein Puls. Und selbst die Wärme, die er eben noch gespürt hatte, war kaum noch wahrzunehmen. Jetzt mussten sie an sich denken.
Mussten sich aus dem Staub machen.
Das Kätzchen leckte an dem klebrigen, unheimlichen Blut und schnurrte dabei wie ein Motor ... der Motor eines Volkswagens. In diesem Moment merkte Scott, dass er ganz allein neben dem Opfer seiner Tat kniete. Die anderen hatten sich in den Wagen geflüchtet. Jake saß starr und steif hinter dem Lenkrad, Brian hatte sich auf dem Rücksitz zusammengekauert.
Heftig hin und her schwankend, blieb Scott an Ort und Stelle stehen, unfähig, den Blick von dem seelenlosen Körper abzuwenden, für dessen Tod auf der Straße er verantwortlich war.
Und dann rannte auch er davon.
Er stolperte über einen winzigen verlorenen Schuh, fiel so hin, dass er alle viere von sich streckte, rappelte sich wieder hoch und zwängte sich wie ein Dieb in den wartenden Wagen.
Doch vorher merkte er noch, dass hinter den Bäumen ein gelbliches Licht flackerte.
Scott wandte den Blick von dem unheimlichen Fleck auf der Straße zum regenfeuchten Wald, wo er ein Gebäude ausmachen konnte. Von seinem Standort aus sah er einen Teil des mit schwarzen Schindeln gedeckten Daches. Niedergeduckt, nach hinten geneigt, mit einem einzigen verrotteten Giebel und einer verglasten Veranda ähnelte es eher einer Hütte als einem Haus. Als Scott völlig durchnässt und zitternd in die von Unkraut überwucherte Lichtung trat, die das Gebäude umgab, merkte er, dass hier niemand mehr wohnte. Irgendwann einmal, es musste Jahre her sein, hatte jemand das Gebäude auf Pfahle gebockt. Wahrscheinlich, um es gegen Überschwemmungen zu sichern. Allerdings hatte sich eine der Holzstützen längst verlagert, so dass sich das Gebäude jetzt bedenklich zur Seite neigte.
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