Die Gestalt auf der Zeichnung hatte einen mumifizierten Leichnam entdeckt, dessen Herz von einem Fleischermesser durchbohrt war. Die toten Finger hatten etwas Flaches an die Brust gedrückt.
Und genau das befand sich unter seinen Füßen.
Scott griff hinunter und löste das Bündel aus den verdorrten Armen, die es umklammerten. Als er die Augen in den eingesunkenen Höhlen sah, die wie aus dem Schädel gelöste Eiskugeln wirkten, fiel ihm Dr. Holley ein: Ist sie das? Ist das Ihre Frau?
Das Bündel bestand aus einer Decke, die ein Buch umhüllte. Es war ein großes Sammelalbum aus weichem Material, ähnlich den Mappen, die Scott in der Schulzeit dazu benutzt hatte, Unterlagen für bestimmte Klassenprojekte, etwa Zeitungsausschnitte oder Fotos, zu sammeln und dort einzukleben. Als er das Bündel auswickelte, zerbröselte der Stoff unter seinen Händen. Es blieben nur Fetzen zurück, die nach Schimmel und Moder stanken.
Er verlagerte seine Position so, dass er den Rücken dem Fenster zuwandte, und setzte sich auf den Rand der Grube. Dabei fiel sein Blick auf ein schwach glänzendes Stück Metall in den Tiefen des hohlen Brustkorbs. Als er sich näher darüber beugte, entdeckte er ein Fleischermesser aus rost freiem Stahl, das sich bis in die Wirbelsäule des Leichnams gegraben hatte. Auf der Schneide war etwas aufgespießt, was wie eine Dörrpflaume aussah, ein Gewebeknoten, der früher einmal ein menschliches Herz gewesen war.
Während das Album aufgeschlagen auf seinen Knien lag blickte Scott mit zusammengekniffenen Augen auf das Foto das auf der ersten Seite klebte. Es war ein verblichenes Polaroidfoto, aufgenommen im Garten; im Hintergrund waren die Schaukel und die Trauerweide zu erkennen. Ein blasses Mädchen mit silbernem Haar stand neben einem großen, grinsenden Mann, dem es bis zur Hüfte reichte. Der Mann war sicher schon über siebzig und hatte äußerst eindrucksvolle dunkle Augen - Augen, die eher wie Knöpfe aussahen ...
Die Worte, die irgendjemand mit blauer Tinte darunter geschrieben hatte, waren kaum noch lesbar - so als hätten Zeit und Fäulnis ihr Vernichtungswerk gerade noch so lange aufgeschoben, bis irgendjemand dieses von einem Leichnam bewachte Bündel fand. Die sorgfaltig gemalte Bildunterschrift lautete: OPA UND MARISSA ROWE. MISSYS 10. GEBURTSTAG, 11. JULI 1972. Der Zeichner ... der Alte war der Großvater des Kindes. Scott, der sich so fühlte, als häute ihn jemand bei lebendigem Leib, schlug die Seite um und versuchte, den verblassten Brief, der dort eingeklebt war, zu entziffern. Er trug das Datum des 3. Januars 1970. Die Schrift war unregelmäßig und verschmiert, offenbar hatte die Hand beim Schreiben gezittert. Außerdem war der Brief voller Rechtschreibfehler; die meisten Worte waren so buchstabiert, wie sie ausgesprochen wurden. Der Wortlaut, den Scott rekonstruierte, war folgender:
Lieber Daddy,
mir geht 's jetzt viel besser. Die Arzte im Sanatorium sagen , ich kann jetzt wieder ein normales Leben fuhren. Hab seit zwei fahren nicht mehr getrunken und noch länger keine Drogen genommen. Ich will meine Marissa zurück. Ich weiß, dass du der Vater bist, und das hab ich auch den Ärzten im Sanatorium gesagt, aber sie braucht ihre Mama jetzt. Also leg mir bitte nix in den Weg. Wie die Arzte sagen, hob ich immer noch das Sorgerecht. Es sind neun lange Jahre gewesen. Ich will nicht, dass du ihr so was antust wie mir. In einer Woche bin ich da. Bitte bereite meine kleine Tochter darauf vor. Sag ihr, wir werden in Boston leben, in einer hübschen Wohnung nah am Wasser.
Deine Tochter Marietta
Nicht der Großvater ... der Vater!
Scott blätterte um. Auf der nächsten Seite klebte die Buntstiftzeichnung eines Kindes: Ein primitiv gezeichnetes, mit Strichen angedeutetes Kind kauerte hinter dem Bein eines großen Strich-Männchens, das ein Messer in der Hand hielt. Vor ihnen stand eine hässliche Hexe mit langer, von Warzen übersäter Nase, die eine Flasche in der Hand hielt. Darunter stand in kindlicher Schrift, bei der sich einige Buchstaben nach hinten neigten: BITTE LASS NICHT ZU DASS SIE MICH HOLT
Auf der nächsten Seite klebte ein alter Zeitungsausschnitt vom 30. Januar 1970.
Von ihrem Vater als vermisst gemeldet: Marietta Rowe, 36, Mutter einer Tochter, Marissa Rowe. Miss Rowe wurde vor kurzem aus einer Bostoner Rehabilitationsklinik entlassen und befand sich auf dem Heimweg zu ihrem Kind, für das sie jetzt ihr Sorgerecht geltend machen wollte. Seitdem ist nichts über ihren Verbleib bekannt. Bislang hat Nicholas Rowe, Marietta Rowes Vater, für Marissa gesorgt. Bereits kurz nach Marissas Geburt erhielt er das Sorgerecht für seine Enkelin. Es fehlen jegliche Hinweise und Spuren, die ...
Der Zeitungsausschnitt enthielt auch ein Foto, das ebenfalls stark verblichen war. Ein flaches Gesicht, gezeichnet von Krankheit und Alkohol, blickte Scott wie ein Gespenst an Marissas Mutter. Ein düsteres, grobes, vom Leben betrogenes Gesicht. Am Hals hing ein auffälliges Medaillon, ein Friedenssymbol, eingefasst in ein silbernes Oval.
Scott zündete ein Streichholz an und leuchtete damit in die Grube. Das zarte, gelbe Flämmchen schwankte hin und her und ließ nicht auszulotende Schatten hervortreten.
An der Kehle des Skeletts baumelten die Kette und das inzwischen verrostete Medaillon.
Der Alte hatte seine eigene Tochter umgebracht, weil er Marissa nicht mehr hatte hergeben wollen. Welch seltsame, schreckliche Liebe ... Scott, der fast zu atmen vergaß, blätterte um. Und stieß auf Zeichnungen.
Erneut überwältigte ihn das Gefühl völliger Irrealität. Die Zeichnungen zeigten den Unfall, der vor so langer Zeit passiert war ... Aber aus Sicht des Kindes.
Im ersten Cartoon streckte sich eine weiße Kinderhand nach dem Kätzchen aus, das sich ihr spielerisch entzog. Der Schwanz der Katze war steil aufgerichtet, die winzigen Beine wirbelten blitzschnell und mit großen Sprüngen davon. In der nächsten Sequenz teilte sich das hohe Gras. Die Verfolgungsjagd ging weiter: Das Kätzchen war immer leicht voraus, duckte sich, vollführte Täuschungsmanöver und schoss davon. Dann war die Straße zu sehen, die grellen Scheinwerfer. Dieser stille, endlose Moment. Metall, das sich auftürmte, glitzerndes Chrom, eine Wand aus Glas, dahinter ein dämonisches Gesicht, das Scotts eigenes war ...
Und ein weißhaariges Kind, um dessen Kopf sich ein Heiligenschein aus Blut gelegt hatte.
Wie kann er das wissen? Wie stellt er es an, mir so etwas anzutun?
Scott merkte, wie nach und nach der Wahnsinn von ihm Besitz ergriff, ohne dass er sich dagegen wehrte. Er blätterte weiter...
... und stieß auf weitere Zeichnungen.
Ein brennendes Haus. Eine stattliche Villa. Groß und stolz, genau wie sein Vater gewesen war. Züngelnde Flammen, die auf und ab tanzten. Eine weitere Zeichnung aus größerem Abstand, die zeigte, wie sich die Einfahrt in geschwungener Linie von den mit Säulen eingefassten Toren bis zum Haus erstreckte. Deutlich war die in Messing gearbeitete und auf Hochglanz polierte Hausnummer 47 zu erkennen.
Es war das Haus, in dem Scott aufgewachsen war.
Das Haus, in dem seine Eltern verbrannt waren.
So heftig zitternd, dass er kaum noch Luft bekam, wandte sich Scott der letzten vermoderten Seite zu. Dort fand er eine Nachricht in sauberer gotischer Schrift, die schlicht und einfach besagte: Auge um Auge.
Trotz seiner Verwirrung und Benommenheit sah Scott jetzt rot, sein Entsetzen vermischte sich mit ungezügelter Wut.
Blutstropfen benetzten die aufgeschlagene Seite und bildeten dort kleine Kreise aus rötlichen Perlen. Als Scott eine Hand ans Kinn hob, stellte er fest, dass die kleine, erbsengroße Narbe wieder aufgeplatzt war und zu bluten angefangen hatte.
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