»Oh, Gentlemen – Gentlemen!« jammerte die Wirtin. »Haben Sie auch etwas gehört?«
»Ja, einen Schrei, Madam«, sagte mein Mitmieter. »Haben Sie schon in die Schlafkammern Ihrer Töchter geschaut?«
Das Zimmer der jüngeren Tochter lag am nächsten, und in dieses ging sie deshalb zuerst. Einen Moment darauf erschien sie wieder auf der Schwelle, im Gesicht weiß wie ein Laken, rang die Hände und stöhnte:
»Mord! Mord! Mein Kind – mein Kind ist ermordet worden, Master Harding.« Das war der Name meines Mitmieters.
»Reißen Sie eines der Fenster auf und rufen Sie nach der Wache«, sagte er zu mir. »Ich werde das Zimmer durchsuchen, und wehe jedem, den ich unerlaubt in dessen Wänden finde.«
Ich tat, wie er gesagt hatte, lehnte mich aus dem Fenster und rief nach der Wache, aber keine Wache kam; dann, bei einem zweiten Besuch im Zimmer ihrer Tochter, stellte die Wirtin fest, daß diese nur ohnmächtig war und daß sie sich durch das Blut an ihrem Hals hatte täuschen lassen, sie sei ermordet worden; daraufhin kam das Haus wieder halbwegs zur Ruhe, und da jetzt sowieso der Morgen nahe war, zog Mr. Harding sich wieder auf sein Zimmer zurück und ich mich auf das meine, und wir überließen es der Wirtin und ihrer älteren Tochter, am Bett der jüngeren zu wachen.
Wie herrlich wiederbelebt ich mich fühlte – ich war eine völlig neue Kreatur, als die hellen Sonnenstrahlen in mein Zimmer fielen. Ich kleidete mich an und wollte gerade das Haus verlassen, als Mr. Harding aus einem der Zimmer im Parterre trat und mich abfing.
»Sir«, sagte er, »ich habe nicht das Vergnügen, Sie zu kennen, aber ich bin sicher, ein allgemeines Gefühl von Anstand und Ritterlichkeit wird Sie veranlassen, alles in Ihren Kräften Stehende zu tun, einer so schrecklichen Bedrohung wie in der letzten Nacht vorzubeugen, damit sie sich nicht wiederholen kann.«
»Bedrohung, Sir?« sagte ich. »Bedrohung von wem und durch was?«
»Eine sehr berechtigte Frage«, sagte er, »aber gleichzeitig eine, die ich kaum beantworten kann. Das Mädchen behauptet, sie sei davon erwacht, daß jemand sie in den Hals biß, und als Beweis dafür weist sie auch tatsächlich Bißspuren vor. So entsetzt ist sie darüber, daß sie erklärt, niemals wieder schlafen zu können.«
»Sie erstaunen mich«, sagte ich.
»Sicher, die Sache ist so erstaunlich, daß man niemandem die Zweifel verdenken kann, die er haben mag. Aber wenn Sie und ich, die wir beide Bewohner dieses Hauses sind, heute nacht in dem Korridor Wache halten würden, könnte das auf die Einbildung des jungen Mädchens eine beruhigende Wirkung haben, und vielleicht gelingt es uns dadurch, dem nächtlichen Störenfried auf die Spur zu kommen.«
»Gewiß«, sagte ich, »ich stehe ganz zu Ihrer Verfügung, und es wird mir ein Vergnügen sein.«
»Gut, machen wir dann gleich jetzt aus, daß wir uns um elf Uhr abends in Ihrem oder meinem Apartment treffen.«
»In welchem immer Sie wollen, Sir. Welches Sie für das geeignetere halten.«
»Ich schlage meines vor, welches die letzte Tür im Korridor ist und wo ich mich glücklich schätzen werde, Sie um elf zu sehen.«
Es war da etwas an den Manieren dieses jungen Mannes, das mir nicht ganz gefiel, und doch konnte ich nicht zu einem positiven Schluß kommen, ob er mich verdächtigte; daher hielt ich es für voreilig, zu fliehen, wenn dafür vielleicht überhaupt kein Anlaß bestand. Im Gegenteil, ich entschloß mich, das Ergebnis des Abends abzuwarten, das vielleicht verhängnisvoll für mich sein würde, vielleicht aber auch nicht. Jedenfalls glaubte ich, mich schon irgendwie aus der Klemme ziehen zu können. Wenn mir tatsächlich vom Schicksal bestimmt war, in meiner neuen schrecklichen Existenz als ein von der menschlichen Gesellschaft Ausgeschlossener zu leben, gewöhnte ich mich lieber beizeiten daran und sah zu, wie ich mich aus solchen Schwierigkeiten retten konnte, die sich immer wieder ergeben würden.
Also verließ ich mich auf meine eigene Stärke und gedachte, diese skrupellos zu nutzen; ich wartete in leidlich gefaßter Haltung die Nacht ab.
Während des Tages vergnügte ich mich durch Spazierengehen und bemerkte die vielen Veränderungen, die in lediglich zwei Jahren in London vor sich gegangen waren. Aber es waren eben zwei sehr bedeutsame, schicksalhafte Jahre gewesen. Die Gefühle und Gewohnheiten der Leute hatten eine völlige Revolution durchgemacht, über welche ich noch mehr erstaunt war, als ich dann erfuhr, mit welch heimtückischem Verrat die Restauration der exilierten Stuart-Familie bewirkt worden war.
Der Tag ging weiter. Ich verspürte keinerlei Bedürfnis nach irgendwelchen Erfrischungen; ich fühlte mich längst wieder vollends hergestellt, und wenn ich ab und zu einen kräftigenden Schluck köstliches Lebensblut bekam, wie in der letzten Nacht, würde das genug frisches Mark für meine Knochen sein. Davon war ich überzeugt.
Als ich das Haus betrat, das ich zu meinem zeitweiligen Heim gemacht hatte, konnte ich sehen, daß mein Gefühl, mein Aussehen hätte sich inzwischen grundlegend verbessert, nicht von anderen geteilt wurde, denn die gesamte Familie schrak vor mir zurück, als sei ich mit einer ansteckenden Krankheit behaftet und als wäre die bloße Luft, die ich atmete, hassenswert und verderblich. Ich war überzeugt, daß in der Zwischenzeit über mich gesprochen worden war und daß ich jetzt wieder im höchsten Grade verdächtigt wurde. Sicher hätte ich das Haus unverzüglich leise und still verlassen können, aber eine Art Trotzgefühl wurde in mir wach, das mich davon abhielt.
Ich harte das Gefühl, als sei ich verletzt worden und müßte mich deshalb gegen etwas wehren, das nach Unterdrückung aussah.
»Warum«, sagte ich, »bin ich eigentlich aus dem Grab gerettet worden? Nur um einem böswilligen Schicksal als Spielball zu dienen? Gewiß, mein Verbrechen war schwer, aber dafür habe ich auch genug gelitten, durch meine Todesqualen genug gebüßt. Oder man hätte mich lieber gleich da im Grab ruhen lassen sollen.«
Diese Gefühle gewannen immer mehr Platz in meinem Denken, beherrschten mich bald völlig, und in einer Art trotziger Verzweiflung glaubte ich deshalb, alle Pläne, mich noch weiter zu strafen, vereiteln zu müssen, selbst wenn dieses der Vorsehung selbst zuwiderlaufen sollte.
Dies war letztlich der Grund, warum ich mich nicht als Feigling zeigen und beim ersten Anzeichen von Gefahr fliehen wollte.
Ich saß in meinem Zimmer, bis die Stunde meiner Verabredung mit Mr. Harding kam, ging dann zuversichtlichen Schrittes den Korridor hinauf, wobei ich die Spitze meiner Degenscheide über den Boden klappern ließ, und klopfte kühn an seine Tür. Es schien mir, als zögerte er ein wenig, ehe er mich bat, hereinzukommen, aber vielleicht bildete ich mir das auch nur ein.
Er saß voll angekleidet an einem Tisch, und außer seinem Degen hatte er vor sich auf dem Tisch eine riesige Pistole liegen, beinahe halb so lang wie ein Karabiner.
»Ich sehe, Sie sind gut vorbereitet«, sagte ich, indem ich auf die Pistole deutete.
»Ja«, sagte er, »und ich werde keineswegs zögern, sie zu gebrauchen.«
»Was wollen die jetzt wieder?«
»Wer will was?« fragte er.
»Ich weiß nicht«, sagte ich, »aber mir war so, als hätte da gerade jemand unten im Haus Ihren Namen gerufen.«
»So, wirklich? Dann entschuldigen Sie mich bitte einen Moment, vielleicht haben sie unten etwas entdeckt.«
Es stand eine Karaffe Rotwein auf dem Tisch, und während Harding weg war, goß ich ein Glas voll vorn in den Lauf der Pistole hinein. Dann wischte ich die Mündung sorgfältig mit der Manschette meines Jacketts ab, so daß äußerlich nichts davon zu merken war, daß ich das Pulver durchnäßt hatte.
Als er zurückkam, sah er mich argwöhnisch an und sagte:
»Niemand hat mich gerufen. Wie kommen Sie denn dazu, zu behaupten, jemand hätte mich gerufen?«
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