Aber wie hatte ich da vorzugehen? Wie sollte ich wissen, welchen Schläfer in dem großen Haus ich am ungefährdetsten attackieren konnte, denn daß ich dazu jemanden attackieren mußte, war mir inzwischen natürlich klar. Ich stand da wie ein böser Geist, der über die Mittel und Wege nachsann, sich ein Opfer zu holen.
Und gerade da kam wieder ein neuer Schwächeanfall über mich, jenes entsetzliche Schwächegefühl, das mit jedem Moment stärker wurde und mich völlig zu übermannen drohte. Ich fürchtete, daß ich nach einem neuerlichen Schwächeanfall nicht mehr imstande sein würde, wieder aufzustehen; und so seltsam das auch erscheinen mag, ich hing plötzlich verzweifelt an diesem neuen Leben, das mir da gegeben worden war. Ich schien bereits mit allen dessen Schrecken, aber noch nicht mit dessen Freuden vertraut zu sein.
Plötzlich lichtete sich das Dunkel in dem Korridor, weicher Silberschein fiel herein, und ich sagte mir:
»Der Mond muß aufgegangen sein.«
Ja, tatsächlich war der helle und schöne Mond, der solch einen wiederbelebenden Einfluß auf mich gehabt hatte, als ich inmitten der Gräber gelegen hatte, hinter einer Wolkenbank am östlichen Himmel hervorgekommen, und sein Schein fiel zu einem kleinen Fenster herein. Das Mondlicht erfüllte von dort aus den ganzen Korridor, ihn zwar nur schwach, aber wirksam genug erhellend, um mich ganz klar die verschiedenen Türen erkennen zu lassen, die in die diversen Zimmer führten.
Und so kam es, daß ich zwar genügend Licht hatte für alles, was ich unternehmen wollte, aber sonst keinen weiteren Anhalt.
Die Mondstrahlen, die mir ins Gesicht fielen, schienen mir jedoch vorübergehend neue Kräfte zu verleihen. Erst viel später lernte ich aus Erfahrung kennen, daß sie auf mich immer eine solche belebende Wirkung haben, aber schon damals spürte ich es, obwohl ich diese Wirkung noch keineswegs dem königlichen Himmelsgestirn der Nacht zuschrieb.
Ich ging den Korridor entlang und spürte plötzlich einen Einfluß, der mich zu einer bestimmten Tür hinzog. Ich weiß nicht, wie und woher das kam, aber ich legte meine Hand auf den Türgriff und sagte mir sofort:
»Da drinnen werde ich mein Opfer finden.«
Ich hielt jedoch erst noch einen Moment inne, denn plötzlich wurde mir bewußt, welch schreckliche Tat ich zu begehen im Begriff war und welch schwere Konsequenzen sich daraus vielleicht für mich ergeben konnten. Selbst nachdem ich so weit gegangen war, wäre ich vielleicht immer noch vor der Tat selbst zurückgezuckt, wenn ich nicht gerade im nämlichen Augenblick einen neuen Schwächeanfall gespürt hätte, so entsetzlich und verheerend, daß ich überzeugt war, es würde mein sicherer Tod sein, wenn ich nicht sofort etwas dagegen unternähme.
Daraufhin zögerte ich nicht mehr länger; ich drückte die Klinke nieder, glaubte aber sicher, dadurch entdeckt zu werden. Und so ließ ich die Tür etwa einen Zollbreit offenstehen und floh zu meinem eigenen Zimmer zurück.
Ich horchte gespannt, aber es erfolgte weder ein Alarm, noch rührte sich etwas in irgendeinem der anderen Zimmer – die gleiche totenähnliche Stille wie vorher lag über dem Haus, und ich hatte das Gefühl, daß ich immer noch sicher war.
Ein weicher Strahl von gelbem Licht war durch den Spalt jener Tür gefallen, als ich sie geöffnet hatte. Er mischte sich seltsam mit dem silbrigen Mondlicht, und ich schloß daraus, korrekt genug, wie ich später feststellte, daß in dem Zimmer eine Lampe brannte.
Es dauerte weitere zehn Minuten, bis ich mich wieder soweit gefaßt hatte, daß ich aus meinem Zimmer schlüpfen und zu jenem des mir vom Schicksal bestimmten Schläfers zurückschleichen konnte; aber schließlich sagte ich mir, daß ich es nun gefahrlos tun könnte; außerdem schwand die Nacht schnell dahin. Wenn überhaupt, dann mußte ich sofort handeln, ehe das erste Licht des Morgengrauens die Geister der Nacht vertrieb, und vielleicht blieb mir dann gar keine Kraft mehr, noch zu handeln.
»Was«, sagte ich mir, »wird nach weiteren vierundzwanzig Stunden Erschöpfung aus mir geworden sein? Werde ich dann noch die Kraft haben, die Wahl zu treffen, was ich will und was ich nicht will? Nein, noch einmal vierundzwanzig Stunden Entkräftung werde ich wahrscheinlich nicht überleben.«
Dies war es, was für mich den Ausschlag gab. Mit äußerster Vorsicht und auf Zehenspitzen näherte ich mich erneut jener Schlafzimmertür, die ich spaltbreit geöffnet hatte.
Diesmal zögerte ich nicht mehr, sondern überquerte sofort die Schwelle und sah mich um. Es war die Schlafkammer der jüngeren Tochter meiner Wirtin, die nach meiner Schätzung etwa sechzehn Jahre alt war. Wohl aufgrund meiner schrecklichen Erscheinung waren mir die Töchter soweit wie möglich aus dem Weg gegangen, so daß ich mir noch gar kein genaueres Urteil über ihr Alter und ihr Aussehen hatte bilden können.
Ich wußte nur, es war die jüngere, denn sie trug ihr Haar lang, und sie trug es in Locken, die lose über das Kissen fielen, auf welchem sie schlief, während ihre ältere Schwester, wie ich bemerkt hatte, ihr Haar glatt und vom Nacken aus hochgesteckt trug.
Ich stand neben dem Bett und sah auf dieses hübsche Mädchen herab, das in dem ganzen Stolz seiner jungen Schönheit schlummerte. Seine Lippen waren geteilt, als sähe es in seinem Traum irgendein angenehmes Bild, das es selbst im Schlaf noch lächeln ließ. Sie murmelte auch zweimal ein Wort, welches ich für den Namen von irgend jemandem hielt – vielleicht das Idol ihres jungen Herzens –, aber er war zu undeutlich ausgesprochen, als daß ich ihn verstand; und es kümmerte mich auch nicht, was da vielleicht ihr gehütetes Geheimnis war. Ich legte keinen weiteren Wert auf ihre Zuneigung, noch war ich irgendwie eifersüchtig; bald würde sie mich sowieso verabscheuen und abgrundtief hassen.
Einer ihrer zarten, exquisit gerundeten Arme lag auf der Bettdecke; auch ihr alabasterweißer Hals war teilweise meinem Blick ausgesetzt, aber ich empfand keine Liebesleidenschaft – Nahrung war es, was ich wollte.
Ich sprang auf sie drauf. Sie stieß einen gellenden Schrei aus, aber nicht, bevor ich mir einen langen Zug von Lebensblut aus ihrem Hals gesichert hatte. Der genügte mir. Ich spürte, wie er mir wie Feuer durch die Venen rann, und ich fühlte mich sofort gekräftigt. Von diesem Moment an wußte ich, was künftig meine Nahrung sein würde; es war Blut – das Blut von Zarten und Schönen.
Das Haus war sofort alarmiert und aufgeschreckt, aber nicht, bevor ich mich zurück auf mein eigenes Zimmer hatte flüchten können. Ich war nur teilweise angezogen, und jene paar Kleider warf ich ab, stieg in mein Bett und täuschte vor zu schlafen. Und als dann der Gentleman, der gleichfalls im Haus schlief und von dessen Anwesenheit ich bis dahin nichts gewußt hatte, laut an meine Tür klopfte, tat ich so, als würde ich erschreckt erwachen, und rief mit ängstlicher Stimme:
»Was ist? Was ist? Um Gottes willen, sagen Sie mir, steht das Haus in Flammen?«
»Nein, nein – aber stehen Sie auf, Sir, stehen Sie auf. Jemand Fremder ist im Haus. Ich glaube, ein Mordversuch ist gemacht worden, Sir.«
Ich stand auf und öffnete die Tür, so daß er bei dem Licht der Kerze, die er in der Hand hielt, sehen konnte, daß ich mich erst ankleiden mußte; er war selbst nur halb angezogen, unter dem Arm trug er seinen Degen.
»Eine merkwürdige Sache«, sagte er, »aber ich habe ganz deutlich einen Alarmschrei gehört.«
»Ich ebenfalls«, sagte ich, »aber ich glaubte, ich hätte nur geträumt.«
»Hilfe! Hilfe! Hilfe!« schrie die Witwe, die aufgestanden war, aber noch auf der Schwelle ihrer eigenen Kammer stand. »Diebe! Diebe!«
Bis dahin hatte ich mich soweit angekleidet, daß ich geziemend in Erscheinung treten konnte; ebenfalls meinen Degen unter dem Arm, kam ich in den Korridor hinaus.
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