»Entweder das, oder ich schieße auch noch einen für Euch.«
»Wie sieht es mit Wein aus?«
»Habe ein volles Fass gefunden!«
»Das dürfte uns für den Vormittag reichen.« Sie ging weiter.
Sonja fand das warme Wasser des Badebeckens sehr erholsam. Sie ließ sich auf der Oberfläche treiben und von dem wohligen Nass umschmeicheln, dann erst schrubbte sie sich und wusch ihr Haar. Danach schwamm sie noch eine Weile gemächlich. Angenehm müde legte sie sich auf den breiten Sandstreifen neben dem Becken und schloss die Augen. Doch mit dem nahen Schlaf kamen Erinnerungen und Träume. Hastig öffnete sie die Lider und setzte sich auf.
Da ihr Unterhemd nicht so schnell trocken würde, selbst wenn sie es jetzt wusch, schaute sie sich nach einem Ersatz um und fand einen kurzen Männerkittel. Sie schlüpfte hinein. Er passte zwar gut, doch das grobe Gewebe schmerzte auf ihren Schürf- und Brandwunden. Also zog sie sich noch einmal aus und rieb sich mit Öl ein. Danach taten die Verletzungen weniger weh. Sie wünschte sich, es gäbe eine Salbe, die ihren seelischen Schmerz lindern könnte.
Ban-Itos hatte tatsächlich ein zweites Schneehuhn für sie geschossen und gebraten. Als sie vom Badehaus zurückkam, war es schon gar. Sie dankte dem Zauberer und begann, gierig zu essen. Als der größte Hunger gestillt war, blickte sie von dem halbverzehrten Schneehuhn in ihren Händen auf und sagte: »Ich ließ einen Freund hier im Dorf zurück, als wir zur Zikkurat aufbrachen.«
Der Zauberer schaute sie betrübt an.
»Er heißt Iatos«, fuhr sie fort. »Ich muss nach ihm suchen. Vielleicht …«
»Nein, Sonja«, unterbrach Ban-Itos sie. »Er lebt nicht mehr. Niemand hier lebt noch. Als ich im Morgengrauen aufwachte, forschte ich mit Hilfe der Magie nach Lebenden hier. Leider sind wir die einzigen im Dorf – und im gesamten Land ringsum, bis zum Horizont.«
Sonja legte das Brathuhn zur Seite und hing eine Weile düster ihren Gedanken nach. Zumindest würde Iatos nicht mehr darüber klagen müssen, der Überlebende zu sein …
So viele waren gestorben, so viele Tausende – und sie wusste, dass auch sie in der Zikkurat gefallen wäre ohne Ban-Itos magische Hilfe.
»War es das Ganze wert, alter Freund?« fragte sie schließlich. »All diese Menschen, die ihr Leben verloren?«
Er nickte ernst. »Hätten wir den Stern nicht befreit, hätte Thotas vermutlich lange genug gelebt, um sich seiner Macht so zu bedienen, wie er es vorgehabt hatte. Er hätte die ganze Welt erobert und die Menschheit als ungeheures Opfer zu diesem Höllenschlund geschafft, um von den finsteren Göttern, die den Kosmos erschufen, noch größere Macht zu gewinnen. Es war der größte von Zauberern je ersonnene Plan – doch weder Thotas, noch seine Vorgänger erkannten in vollem Maß das Wesen dessen, was sie aus dem schwarzen All jenseits des Erdenhimmels herbeibeschworen. Letztendlich wären sie vernichtet worden, doch mit ihnen die Erde. Thotas musste aufgehalten werden. Ohne Bo-ugans Hartnäckigkeit, auch dann noch weiterzukämpfen, als er erkannt hatte, dass er nicht gewinnen konnte, hätte Thotas vielleicht sein Ziel erreicht. Doch Bo-ugan hielt ihn auf und lenkte ihn in gerade ausreichendem Maße ab …«
Sonja versank wieder in Schweigen. Von allen Soldaten, die diesen zehnjährigen Wahnsinn nicht überlebt hatten, konnte sie lediglich Iatos betrauern. Nun gab es keine Gelegenheit mehr, ihr unterbrochenes Gespräch mit ihm wieder aufzunehmen. Er würde ihr keinen Trost mehr mit seiner Lebensphilosophie zu schenken vermögen. Sie würde sich an ihn nur erinnern können, wie sie ihn gekannt hatte – als entschlossenen, unabhängigen Geist, der gleichermaßen Schwertkämpfer und Gelehrter, Tatmensch und Denker gewesen war. Sie war froh über Ban-Itos’ Worte – froh zu wissen, dass Iatos und die anderen nicht umsonst gestorben waren.
Nachdem sie mit dem Essen fertig war, machte sie es sich auf dem Boden bequem, genau wie der Zauberer. Sie tranken Wein, sprachen jedoch kaum. Nicht, dass sie kein Vertrauen zueinander gehabt hätten, doch waren sie einfach noch nicht bereit, sich über ihre Erlebnisse zu unterhalten, dazu war ihre seelische, emotionale Erschöpfung noch zu groß.
»Und Ihr sagt, Thotas’ Zauber hielt ihn gefangen? Was war der Stern denn nun genau?«
Ban-Itos runzelte nachdenklich die Stirn. »Es gibt so manches Seltsame in diesem Kosmos: schlafende Riesen im Erdkern, die nur auf die richtigen Rituale warten, um zu erwachen; tote Götter, die überall rings um uns schweben und darauf harren, wiederbelebt und mit neuer Macht ausgestattet zu werden; Geister so alt wie die Zeit, die in Menschengestalt über die Erde wandeln auf der Suche nach Antworten; andere Welten … Der Stern? Ich weiß es nicht. Er war etwas, das unser Begriffsvermögen übersteigt.«
Er nahm einen Schluck Wein und schien zu grübeln.
»Was ist mit diesen Bildern, die ich im Silberschild widergespiegelt sah?« fragte Sonja.
»Ihr habt mehr erschaut, als den meisten Zauberern je vergönnt ist«, antwortete Ban-Itos. »Wahre Bilder des Alls … Keinem Sterblichen ist mehr als ein flüchtiger Blick darauf vergönnt, ohne dass es ihm den Tod bringt.«
»Und mein – Hüter? Meine Bestimmung? Was ist dieses blaue Wesen, das mir die Geschicklichkeit im Umgang mit dem Schwert schenkte und auf meiner Bestimmung beharrt?«
»Es ist, was es zu sein behauptet«, erwiderte Ban-Itos sanft. »Es ist – Ihr selbst. Um es zu erkennen, braucht Ihr bloß Euch zu erkennen.«
Sonja starrte in ihren Becher. »Und – Daron?«
Ban-Itos lächelte traurig, unsicher. »Ihr kanntet ihn besser als ich, Sonja. Ihr erkanntet ihn als das, was er war. Die Antwort zu dieser Frage liegt ebenfalls in Euch.«
Schweigend blickte sie eine lange Weile auf ein verbogenes Metallstück ihr gegenüber, in dem sich die Sonne spiegelte. Müßig fragte sie sich, was es wohl gewesen war. So lange starrte sie darauf, bis es vor ihren Augen verschwamm und nur noch ein Funkeln war.
Gegen Mittnachmittag waren sie aufbruchsbereit. Jeder hatte Wegzehrung für sich zusammengetragen, dazu Kleidung und Waffen, und sowohl der Greis wie Sonja hatten ein Pferd gefunden.
»Wohin werdet Ihr ziehen, Ban-Itos?« erkundigte sich Sonja. »Was werdet Ihr tun?«
»Ich fürchte, ich habe noch viele Jahre vor mir, da Daron statt meiner dem Schicksal folgte, als es rief. Ich werde durch die Lande wandern, und schließlich werde ich wohl zu Oduracs Behausung zurückkehren.«
»Warum denn, Zauberer?«
»So viel ist dort, das verbessert werden muss, und viel Kraft, die ich wieder dem WEG zuwenden kann. Dann gibt es viel zu studieren, zu lernen. Für mich wird es ein angenehmeres Zuhause werden, als es für Odurac war, denn ich kann das, was er begann, zu einem besseren Zweck führen als er, hätte er länger gelebt.«
Sonja nickte.
»Und Ihr?« fragte Ban-Itos sie.
Sie überlegte kurz. »Auch ich werde herumstreifen. Doch zunächst muss ich noch etwas erledigen, das nur ich tun kann.«
Ban-Itos betrachtete sie nachdenklich. »Ja, natürlich«, sagte er. Er langte in sein Gewand, brachte etwas zum Vorschein und gab es ihr. »Nehmt das, Sonja – vielleicht kann es Euch helfen.«
Sonja erkannte es als den kleinen Lederbeutel, in dem noch der Rest von Oduracs Asche war. Vorsichtig öffnete sie ihn und blickte hinein. Sie sah, dass die Asche schwach glühte, so dass der blaue Stein, den Daron dazugelegt hatte, gespenstisch glühte.
»Ban-Itos, ich kann nicht …«
»In der Asche eines Zauberers liegt viel Macht«, versicherte ihr der Greis. »Darons Seele ist gefährdet, doch Odurac war sein Vater … Lebt wohl, Sonja.«
»Ihr auch, Ban-Itos!«
Sie hängte den Beutel an ihren Gürtel. Dann standen sie einander gegenüber, halb glücklich, halb traurig. Sie erinnerten sich an alles, was sie in den vergangenen Wochen erlebt hatten, wie sie einander schätzen gelernt hatten und was sie nun füreinander empfanden. Ban-Itos breitete die Arme aus. Sonja warf sich an seine Brust und umarmte ihn. Da legte auch der Greis seine Arme um sie und drückte sie an sich.
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